Kaschmir I: „My Shangri-La beneath the summer moon, I will return again“

Es gibt Orte auf dieser Welt, die etwas in mir auslösen, wenn ich nur ihren Namen ausspreche oder höre. Die mich allein vom Wortklang her verzaubern und den unbezwingbaren Wunsch in mir wecken, dem Geheimnis dieses Klangs auf den Grund zu gehen. Casablanca. Marrakesch. Bombay. Saigon. Shanghai. Orte, deren Namen wie Musik in meinen Ohren klingen und Bilder in mir aufsteigen lassen, ohne dort gewesen zu sein.

Von einigen dieser Orte war ich enttäuscht, als ich sie besuchte. Sie hatten nicht so viel mit dem zu tun, was ich mir in meiner Phantasie ausgemalt hatte. Waren nicht so lieblich, mystisch, aufregend oder verheißungsvoll, wie der Klang ihres Namens es versprach. Oder wie das Bild, dass ich mir anhand der Lektüre von Romanen gemacht hatte, die an diesen Orten spielen, oftmals jedoch vor zwanzig, dreißig, vierzig oder gar hundert Jahren. Eine Zeitspanne, in der sich ein Ort sein Gesicht komplett verändern kann und man unter Umständen nur noch zaghafte Spuren einer längst vergangenen, vielleicht glanzvolleren Zeit findet.

Kaschmir – zauberhaftes „Shangri-La“ oder zerrüttetes Kriegsgebiet?

Andere dieser klanghaften Orte hingegen haben mich mitgerissen, begeistert, verzaubert. Auch wenn ich dort ebenfalls nicht immer alles so vorfand, wie ich es mir ausgemalt hatte. Einer dieser Orte ist Kaschmir.Kaschmir, das klang für mich nach Weichheit, nach Flausch. Nach Kaschmirwolle. Nach Sanftheit. Nach Exotik. Nach 1001 Nacht. Gleichzeitig weckte Kaschmir aber seit jeher auch andere Assoziationen in mir. Abenteuer. Abgeschiedenheit. Gefahr. Konflikt. Natürlich, denn Kaschmir begleitet uns seit Jahrzehnten in den Medien mit Berichten über den Kaschmirkonflikt. Über einen seit fast 70 Jahren andauernden Konflikt um eine Region im nordwestlichen Himalaya, der zu drei Kriegen zwischen den Atommächten Indien und Pakistan führte, in einen nicht endend wollenden Bürgerkrieg mündete und noch heute latent schwelt.

Als ich vor einigen Jahren „The Kashmir Shawl“ las – jenes wunderbare Buch über die walisische Missionarsfrau Nerys, die sich frischverheiratet aufmacht auf eine abenteuerliche Reise von Ladakh nach Srinagar in Kaschmir und dort ihre neu gewonnen Freiheit auf einem der prachtvollen Hausboote genießen lernt, bevor der zweite Weltkrieg Indien erfasste, und ihre Enkelin Meir, die sich Jahrzehnte später auf die Spuren ihrer Großmutter in Kaschmir macht – hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich dieses Fleckchen Erde in naher Zukunft einmal bereisen würde. Denn Kaschmir gleicht nach wie vor einem Pulverfass.

Zwischen britisch-kolonialer Sommerfrische, Hippie-Eldorado und Terrorismus

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Während sich die britischen Kolonialherren im Sommer auf die hölzernen Hausboote des Dal Lake oder des Nageen Lake in Srinagar zurückzogen und bei Gin Tonic und Zigarren die Hitze von Delhi und Kalkutta hinter sich ließen, sich in den späten Sechzigern und Siebzigern die Hippies auf ihrer abenteuerlichen Überlandreise über Afghanistan und Pakistan in dem malerischen Ort erholten und der Tourismus in den 80ern einen regelrechten Boom erfuhr, war damit 1989 abrupt Schluss. Mit dem Ende des Kriegs zwischen Russland und Afghanistan fanden die Mujahideen seit 1989 in Kaschmir ein neues Betätigungsfeld, das in einen Bürgerkrieg und terroristische Aktionen mündete, denen nicht nur unzählige einheimische Zivilisten zum Opfer vielen, sondern auch westliche Touristen. Von vier der fünf Touristen, die 1995 in der Nähe des Ferienortes Pahalgam gekidnappt wurden, fehlt bis heute jede Spur, der fünfte wurde geköpft. 1999 kam es erneut zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen, als Mujahideen aus Pakistan über die Waffenstillstandslinie in indisches Gebiet eindrangen.

Die letzten gewaltsamen Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes liegen inzwischen fünf Jahre zurück. Dennoch warnt das Auswärtige Amt weiterhin beziehungsweise erneut vor Reisen nach Kaschmir, insbesondere in ländliche Gebiete nahe der „Line of Control“, der De-Facto-Grenze zwischen dem indisch und dem pakistanisch verwalteten Teil Kaschmirs, die die UN 1972 festgelegt hat. Denn neben der terroristischen Gefahr durch Separatisten wird immer wieder auch der offizielle Waffenstillstand gebrochen, der 2003 vereinbart wurde. Besonders, seit Ministerpräsident Modi im Herbst 2014 die Friedensgespräche abgebrochen hat, kommt es wieder verstärkt zu Scharmützeln zwischen indischen und pakistanischen Einheiten, zuletzt im Januar diesen Jahres.

Als ich im April letzten Jahres meinen Jahresurlaub in Indien verbracht habe, hatte ich Gelegenheit, mit Einheimischen und einigen Amerikanern und Europäern zu sprechen, die in Indien leben. Sie alle hatten in den vergangenen Jahren immer wieder Kaschmir besucht und versicherten mir, man könne ohne Probleme in die Region reisen und gefahrlos nicht nur Srinagar, sondern auch die anderen Touristenorte im Kaschmir Valley, also Gulmarg, Pahalgam und Sonamarg, besuchen und von dort aus auch trekken gehen. Auf eigene Faust in entlegene Regionen nahe der Demarkationslinie solle man natürlich nicht reisen.

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So habe ich trotz der Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes und der Warnungen in einigen Reiseführern nicht lange überlegt, als ich letzten Sommer recht spontan meine zweimonatige Auszeit plante. Ich beschloss, nicht nur Ladakh zu besuchen, sondern es den Protagonistinnen von „The Kashmir Shawl“, Nerys und Meir, gleich zu tun, und von Leh nach Srinagar weiterzureisen. Ob es das „Shangri-La beneath the summer moon“ für mich war, das Led Zeppelin in „Kashmir“ besingt, dem legendären Song auf dem „Physical Graffiti“-Album , erfahrt ihr in den kommenden Blogposts. So viel sei vorab verraten: „I will return again“ …

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P.S. Für die Musikkenner: Der Song „Kashmir“ hat eigentlich gar nichts mit Kaschmir zu tun, sondern entstand während einer Fahrt durch die Sahara im Süden Marokkos. Weder Jimmy Page noch Robert Plant waren jemals in Kaschmir … Auch wenn es im Kaschmir Valley keinen gelben Wüstensand gibt, sondern hauptsächlich grüne Wiesen, buschige Kiefernwälder und Seen mit Lotusblüten, fand ich die Zeilen irgendwie passend und möchte sie mit Euch teilen.

Oh, pilot of the storm who leaves no trace, like thoughts inside a dream
Heed the path that led me to that place, yellow desert stream
My Shangri-La beneath the summer moon, I will return again
Sure as the dust that floats high in June, when movin’ through Kashmir.

Led Zeppelin, “Kashmir”, 1975

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