So viel vorab: Nein, ich musste nicht in einem Lehmtipi an der Feuerstelle schlafen und wurde auch nicht von einer mir über das Gesicht schleckenden Ziege geweckt in Naranagh, dem Gypsy-Dorf gut eineinhalb Stunden von Srinagar, in dem ich mit meinem Trekkinguide Mr. Nazir landete. Die Nomaden in Naranagh sind nämlich größtenteils keine Nomaden mehr beziehungsweise nur noch Halbnomaden, sogenannte Gujar, die nur in den Sommermonaten mit ihren Ziegen und Kühen durch die umliegenden, fruchtbaren Hochtäler ziehen und dabei in tipi- oder stallähnlichen Behausungen schlafen. Die meisten jedoch hatten sich entlang der Dorfstraße, wo sich auch die zwei öffentlichen Schulen und ein, zwei Hotels befanden, feste Häuser gebaut. In ein solches zogen wir ein, bei einer muslimischen Großfamilie, auf deren Terrasse sich schon diverse Nachbarn eingefunden hatten um zu gucken, wer hier die nächsten Tage zu Gast sein würde.
Nazir bezog den Raum neben der Terrasse, hier baute er auch unsere kleine, mobile Küche auf. Nachdem er sich umgezogen hatte und in seine Bequemhose geschlüpft war, eine pinkfarbene Pumphose, die mich fortan jeden Tag wie ein leuchtender Klecks auf unseren Bergtouren begleiten sollte. Mein Zimmer war im zweiten Stock, leider ohne Bett. Und wo ist die Toilette? Unten, ich könne das Badezimmer der Familie mitbenutzen. Aha. Sollen wir nicht vielleicht doch in die Pension zwei Häuser weiter umziehen? Keine Sorge, ich würde noch ein Bett bekommen, oder zumindest etwas ähnliches. Von irgendwoher aus dem Dorf wurde dann auch eine Art dicke Daunendecke herangeschafft. Mein Bett. Und wo ist das Kopfkissen? Gab es nicht. Das musste ich mir selber bauen aus meiner Fleece-Jacke und einer Wolldecke, von denen gab es immerhin genug in meinem Pink-Roten-Penthouse. Na gut, wird schon irgendwie gehen für drei Nächte. Wenigstens war der Blick aus dem Fenster atemberaubend mit dem türkis-grünen Fluss, der unten sachte und leise vor sich hin plätscherte, und den Bergen, die direkt auf der anderen Seite des Flusses steil nach oben ragten. Ich sah mich schon Abends mit einem Tee auf meinem Lager lesen, den Geräuschen des Flusses lauschen, den Mond beobachten und die Ruhe genießen, die ich hoffentlich trotz der zahlreichen Mitbewohner im Haus haben würde.
Ich hatte übrigens auch nach vier Tagen keinen richtigen Durchblick, wer in dem Haus mit wem verheiratet war und wer wessen Kind durch die Gegend trug, bei den vielen Frauen, Männern und Kindern, die hier ein und ausgingen. Die mich immer neugierig und zum Teil kritisch beäugten. Zum Beispiel wenn ich mich nach unseren Tageswanderungen mit einem Qahwah, dem köstlichen Kaschmirtee, und einem frischen, runden Kaschmiribrot, das wir auf der Rückkehr beim Dorfbäcker kauften, auf der Schaumstoffmatte niederließ, die die Terrassenmöbel ersetzte, und die vielen Fliegen verscheuchte, die den süßen Tee genauso mochten wie ich und ständig um mich herumschwirrten.
Ich hatte das Gefühl, dass insbesondere die Frauen eine Art Misstrauen mir gegenüber hegten. Vielleicht fanden sie es befremdlich, dass ich als westliche Frau alleine unterwegs war. Ohne Ehemann. Und dann auch noch unverhüllt. Sie trugen alle Kopftuch. Ich versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, was jedoch nicht so einfach war, da kaum jemand Englisch sprach. Doch wie so oft brachen irgendwann die Kinder das Eis, vor allem das Baby des Hauses, das immer wieder zu mir herüber gekrabbelt kam, und die drei kleinen Mädchen, die sich neben mich setzten und spielten.
Ich lernte, dass die Bewohner von Naranagh viel Zeit hatten, herumzustehen und gerne die Lage des Tages diskutierten oder einfach nur herumsaßen und nichts taten. Dass der alte, etwas brummig dreinschauende, bärtige Herr, der den ganzen Tag auf einem beigfarbenen, verschossenen Plastikstuhl draußen saß, das Oberhaupt der Familie war, und ich froh sein konnte, das Nazir für mich kochte. Denn die Familie stand auf indische Fertigkost, tiefgefrorenes Palak Paneer, dessen Plastikverpackung und Karton irgendwo draußen entsorgt wurde. Fehlten nur noch die obligatorischen Maggi-Nudeln, auf die Klein und Groß in Indien so abfahren. Da ließ ich mir doch lieber den Minifisch in Salzkruste schmecken, den Nazir in stundenlanger Präzisionsarbeit nach einer unserer Wanderungen für mich gefangen und gebraten hat. Angeln war eigentlich verboten im Wangath, so heißt der Fluss, der durch Naranagh fließt. Doch Nazir, nicht nur Bergfex, sondern auch ein passionierter Angler, hatte ein stillschweigendes Abkommen mit dem zuständigen Beamten vor Ort. Der drückte beide Augen zu und wünschte uns sogar noch so etwas wie Petri Heil, als wir eines Morgens zusammen mit einem der jungen Männer aus dem Dorf, der das Angelequipment inklusive der Maden tragen musste, Richtung Fluss wanderten.
Apropos Wandern, das konnte man rings um Naranagh, dem kleinen, verschlafenen Nest am Fuße des Pir-Panja-Massivs, wirklich wunderbar. Dennoch waren wir bis auf ein deutsches Pärchen und einer Gruppe junger Inder aus Srinagar die einzigen Touristen. Vielleicht lag das daran, dass die meisten Wanderer Naranagh nur als Ausgangsbasis für mehrtägige Höhentreks in das „Great Lake“-Hochland oder den 5142 Metern hohen vergletscherten Mount Haramukh nutzten. Nach meiner Fünftausender-Premiere in Ladakh hätte ich den Mount Haramukh, von dem übrigens der K2 entdeckt wurde, vielleicht sogar auch geschafft, aber so eine Zeltexpedition war mir dann doch zu kostspielig. Dann lieber ein paar Tagestouren hin zu den grünen Hochalmen, wo wir bei unserer Rast den Ausblick auf die bewaldeten Berge und die kargen, schneebedeckten Bergspitzen genossen und ich mich immer wieder frage, ob ich wirklich in Indien war oder nicht doch versehentlich in die Schweiz gebeamt wurde. Doch das „Menü“ auf der verrosteten Dose vor dem kleinen Kiosk in der Mitte von Nirgendwo und der Inhalt unserer Doggybag erinnert mich daran, dass ich in Indien war, dem Land der Mangos, wabbeligen Marmeladensandwiches und Lays-Chips. Und der Mangos. Nazir zeigt mir, wie man eine Mango ohne Messer öffnet und ihr Fruchtfleisch heraus saugt wie aus einem Sunkist. Er war dabei deutlich geschickter als ich.
Ich habe sie genossen, die Tage in diesem kleinen Kaff, an dessen Ortsende die Zivilisation zu Ende ist und die unbeschreiblich schöne Bergwelt des Himalaya beginnt. In dem die Uhren so langsam ticken, dass mir die vier Tage wie vierzehn Tage vorkamen. In dem es neben all der Naturschönheiten einen mystischen, alten Lord Shiva geweihten Hindutempel aus dem 8. Jahrhundert gibt, der sich geradezu malerisch in die Landschaft einfügt und zum stundenlangen Verweilen einlädt. In dem die Schulkinder sich morgens vor dem Unterricht auf dem Hof in ihrer Schuluniform zur Frühgymnastik versammeln. In dem die Gujar-Frauen sich am Abend nach getaner Arbeit auf dem Strohdach ihrer Hütte niederlassen und mit ihren Kindern spielen. Naranagh gehört zu den Orten, von denen ich vorher in meinem Leben noch nie etwas gehört habe. Ich werde ihn jedoch nie vergessen, und wenn es nur wegen der pinkfarbenen Pumphosen von Mr. Nazir ist …