Irgendetwas ist heute anders. Als ich etwas abgehetzt um kurz vor halb elf die Tür zum Balkon öffne, bin ich fast alleine im Schauspielhaus. Bis auf zwei Bühnentechniker. Und den Kontrabass von Dine. Keine Schauspieler, kein Regisseur, keine Regieassistenzen. Auch von meinen Mit-Bloggern fehlt jede Spur. Habe ich mich im Termin vertan? Oder in der Uhrzeit? Vielleicht haben sich Juliane, Sarah und Susanna doch zu nachtschlafender Zeit auf den Weg Richtung Kammerspiele gemacht und waren schon um 7:00 Uhr zum Aufbau hier. Der stand nämlich heute auf unserem Programm vor den eigentlichen Proben. Optional. Obwohl es mit Sicherheit sehr spannend gewesen wäre zu sehen, wie eine Bühne aufgebaut wird, habe ich den Wecker nochmal weitergestellt, also die Option „Weiterschlafen“ gewählt.
Heute gibt es Verzögerungen im straffen Zeitplan
Okay, ich habe mich nicht in der Uhrzeit vertan. Das Schauspielhaus füllt sich langsam mit Leben. Marie, Sylvana und Kristof erscheinen auf der Bühne. Das Technik- und Regieteam stößt dazu. Und schließlich auch der Regisseur, Luk Perceval. Es wird erst einmal geplaudert. Der Probenstart scheint sich zu verzögern. Ist es ein typischer Montagmorgen, den man vom Büro kennt? Kommt auch ein Theaterbetrieb nach dem Wochenende etwas langsamer als sonst in die Gänge? Oder liegt es daran, dass inzwischen die achte Probewoche begonnen hat und der Tag für die meisten der Beteiligten deutlich früher anfängt als 10:00 Uhr beziehungsweise 10:30 Uhr? Die Bühnentechniker sind wie gesagt schon ab 7:00 Uhr aktiv. Und die Schauspieler sitzen ab 8:45 in der Maske, es wird ja bereits in Originalkostümen geprobt. Und dann jeden Tag vier Stunden Probe, Nachbesprechungen. Das zehrt mit Sicherheit an den Kräften.
Einer fehlt noch, Stephan. Aha. Es heißt, er sitzt noch im Auto zwischen Flughafen und Maximilianstraße. Das kann ja noch dauern. Dann lausche ich doch einfach dem Kontrabass von Dine, der sein Instrument hingebungsvoll tätschelt und bezupft und sich einspielt. Und schaue zu, wie sich Marie und Kristof längs auf der Bühne ablegen, wieder aufspringen, auf und ab gehen und sich schließlich auf der kleinen Treppe niederlassen, die vom Parkett zur Bühne führt. Dann kommt er. „Stephan, möchtest du vielleicht noch einen Kaffee?“, wird der Zuspätkommende von Luk begrüßt.
„Die Türen gehen zu. Und los.“
Jetzt kann es endlich losgehen. „Die Türen gehen zu. Die Zuschauer kommen.“ Licht aus. Erster Akt. Erste Szene. Heute wird „Exiles“ in einem Rutsch durchgeprobt. Unter realen Bedingungen sozusagen. „Machst du mir einen Vorwurf? Machst du mir einen Vorwurf? Machst du mir einen Vorwurf? Vorwurf, Vorwurf, Vorwurf?“ Der Einstieg von Stephan alias Richard hat sich verändert seit Freitag. Es kommt mir irgendwie sanfter vor, langsamer. Insgesamt wirkt heute alles aufgeräumter und runder als bei der letzten Probe. Der Tonfall, das Tempo, die Pausen – all das, was beim letzten Mal erarbeitet wurde, scheint sich gefestigt zu haben. Auch Kristof und Sylvana haben weiter an in ihren Rollen gearbeitet. Kristofs Sturz von der Rampe wirkt noch überzeugender und als er Sylvana beziehungsweise Bertha wegzerrt, ist er wie von Sinnen. Sylvana klingt wie ein kleines Mädchen, als sie sagt „Er hat gesagt, er mag mich. Er mag mich sehr.“
Auch heute gibt es wieder einige Schmunzler. Zum Beispiel, als Kristof nicht nur Sylvana, sondern auch Stephan einen Bussi auf die Wange gibt und sich dieser erst einmal das Gesicht mit einem Taschentuch abwischt. Oder als Kristof, der in Wirklichkeit gar nicht so pummelig ist wie seine Figur Robert, sich aus seinem Fatsuit schält und Luk ihn bittet „Jetzt zieh mal noch dein T-Shirt aus“. Und er nach einem trotzigen „Ich gehe“ den Abgang macht. Ja, was wäre eine moderne Inszenierung ohne wenigstens einen Halbnackten, auch wenn es nur ein entblößter Oberkörper ist …
„Es muss organisch anfangen, daraus kann die Formalität entstehen“
„Wie lang waren wir?“ Eine Stunde und dreißig Minuten. Einschließlich der ein, zwei Stellen, die nochmals wiederholt werden mussten, weil sie noch nicht ganz rund sind. Einmal gibt es eine Irritation, weil Luk eine Textpassage vermisst. „Die haben wir doch am Freitag rausgeschnitten“, erinnert ihn Stephan. Und dann ist das „Warum gehst du jetzt? … Geh’ doch, geh’ doch“ von Sylvana als Bertha ein wenig „too dramatic“.
Luk Perceval ist sehr zufrieden. Einzig der Anfang ist in seinen Augen noch etwas schief. Es sei kein richtiger „Flow“ spürbar, wenn am Anfang alle auf der Bühne stehen und sich nicht bewegen. „Es ist irgendwie noch künstlich. Die Positionen müssen entstehen.“ Vielleicht müsse hinten auf der Bühne im Dunkeln schon etwas entstehen, schon geredet werden. Diskutiert wird auch noch mal die Passage, in der Bertha Richard fragt „Bist du eifersüchtig?“. Darin ist Luk noch zuviel Unruhe. Und: „Nähe suchen durch das Eifersuchtsspiel, das ist irgendwann dann aber so ausgelutscht, dass Nähe real gesucht wird.“
Also, nochmal auf Anfang. „Wir stehen am Einlass. Die Leute kommen herein“. Dine beziehungsweise Archie kommt als erstes auf die Bühne. Die Schauspieler bekommen ein Signal, wenn sie hinten im Dunkeln mit dem Text beginnen sollen. Das Gespräch im Hintergrund wird von dem Kontrabass übertönt, so dass nur Wortfetzen zu hören sind. Aber das ist gewollt so, denn Richard wird sein „Machst Du mir einen Vorwurf“ auf Wunsch von Luk wenigstens zehn Mal wiederholen, wenn alle ihre Plätze auf der Bühne eingenommen haben. Schon sehr gut. Ein Lacher, das laute „Archie“, mit dem Dine aufgefordert wird, sein Spiel zu unterbrechen, klingt wie „Haatschi“, Gesundheit. Und ein letztes Mal auf Anfang. Dabei daran denken: „Es muss organisch anfangen, daraus kann die Formalität entstehen.“ Und Vorhang zu. Bis wir morgen beim vorletzten Probentag vor der Premiere noch einmal dabei sein dürfen!