Es heißt, Indien zieht ein bestimmtes Klientel an Reisenden an, allen voran die Sinnsuchenden, die spirituell Interessierten, die Yogis, die Rucksacktouristen, die auf den Spuren der Hippies durch den Subkontinent reisen, heilige Orte wie Varanasi, Pushkar, Hampi oder Rishikesh besuchen, in Goa Tantrakurse besuchen oder sich für längere Zeit im Dunstkreis des Dalai Lama in Dharamsala niederlassen. In den letzten sechs Wochen bin ich vielen Menschen dieser Coulour begegnet. Manche passen aber auch gar nicht in das beschriebene Muster.
Zum Zähnerichten nach Kalkutta
So wie Kevin, mein Sitznachbar auf dem Flug von Zürich nach Neu-Delhi. Mein erster Gedanke war, was will jemand in einer dicken schwarzen Lederjacke im drückend-heißen 40 Grad heißen Vor-Monsun-Indien? Die Baseball-Kappe tief ins Gesicht gezogen, mit rotumränderten Augen und Dreitagebart sieht Kevin sichtlich derangiert aus, als er kurz vor knapp in seinen (Fenster-)sitz fällt. Er hat bereits einige Flugstunden hinter sich, von Minnesota mit United Airlines, der Service dort sei miserabel gewesen. Wie gut, dass der Service bei SWISS besser ist, nach einem Bier und ein, zwei drei Bechern Weißwein beim spätem Mittagessen kommt Kevin langsam runter. Ob ich keinen Wein möchte. Nein, nicht um diese Uhrzeit. Was ihn nach Indien führt. Wie lange er bleiben wird. Kevin will nach Kalkutta. Was will er denn da um diese Jahreszeit, da war es bei unserem Besuch Ende März schon fast unerträglich feucht und heiß. Einen Kurs besuchen. Er sei Lehrer, habe ab Herbst einen Job als Englischlehrer in einer Industriestadt in Nordchina und müsse dafür einen Test vorlegen. Den Kurs in den USA zu besuchen sei zu teuer. Außerdem würde er sich bei der Gelegenheit in Kalkutta die Zähne machen lassen, das würden viele aus dem Westen machen, es gebe hervorragende Ärzte dort. Zuhause könne er sich das nicht leisten. Ansonsten habe er nicht vor, sein Zimmer bei der Hitze zu verlassen. Ihm sei es ziemlich schlecht gegangen in letzter Zeit, erfahre ich, aber langsam gehe es wieder bergauf. Er freue sich auf den Lehrerjob in China, herauszukommen aus Minnesota und wieder als Lehrer zu arbeiten. Die letzten 15 Jahre habe er ja etwas anderes gemacht, da habe er in San Francisco gelebt. Was er denn dort gemacht habe, frage ich. Mit seiner Ex-Frau, einer Domina, habe er ein SM-Studio betrieben. Das hätten sie bei der Scheidung aber aufgeben müssen. Aha. Ich sehe mir den “Dallas Buyers Club” an mit einem grandiosen Matthew McConaughey in der Hauptrolle. Kevin schaut von seiner Lektüre, einem Roman von Marquez hoch, schaut mir über die Schulter, fragt, ob der Hauptdarsteller schwul sei und deshalb AIDS habe, erzählt, wie es damals in den Achtzigern in San Francisco war, als das Thema aufkam. Aha. Kevin hat definitiv ein bewegtes Leben. Ich hoffe, er ist gut in Kalkutta angekommen, wann sein Weiterflug ging, wusste er nicht. Ich stelle mir gerade vor, wie Kevin in seiner dicken Lederjacke im Biergarten des Fairlawn Hotel in Kalkutta ein kühles Bier trinkt, mit seinen frisch gemachten Zähnen, und seine Geschichte erzählt. Ihm ist bestimmt genauso heiß wie mir hier gerade in Delhi, wo die Luftfeuchtigkeit bei gefühlten 90 Prozent liegt.
Gemeinnützige Projekte in Tibet und Bhutan
Von Ursula, der Buddhistin aus dem stockkatholischen Neumarkt-St.-Veit mit besten Verbindungen zu Guru-jii Bikkhu Shangasena hatte ich bereits berichtet. Sie ist eine von vielen westlichem Buddhisten, die regelmäßig in die buddhistischen Zentren Indiens wie Ladakh oder Dharamsala reisen und sich über eine Organisation oder im Rahmen privater Projekte wohltätig engagieren. So wie Karen, eine Psychologin aus Banff. Sie ist Ende 50 und hat irgendwann beschlossen, dass das Angestelltendasein vor allem eines für sie bedeutet: unfrei sein. Wenn sie Geld braucht, arbeitet sie freiberuflich im Krankenhaus von Banff. Mehrere Monate im Jahr verbringt sie in Indien. Wenn sie Ende Juli nach Kanada zurückfliegt, ist das nur für eine kurze Stippvisite. Ab September wird sie für vier Monate in Bhutan in einem psychologischen Projekt arbeiten. Das kleine Land, in dem angeblich alle Menschen glücklich sind und das als einziges Land das Bruttoglücksprodukt misst, verzeichnet mehr und mehr auch psychische Erkrankungen. Karen wird vor Ort dabei unterstützen, qualifiziertes Personal auszubilden. Es macht Spaß, ihr zuzuhören. Als wir ein paar Tage auf Klostertour unterwegs sind, spricht sie tibetisch mit den älteren Einheimischen. Sie kennt viele spannende Leute, den Privatsekretär des Dalai Lama, Buchautoren und Regisseure, hat unter anderem einen Filmemacher in Tibet begleitet. Ihr Herzensprojekt ist das “Tara Café Projekt”, das sich eigentlich dem Fortbestehen tibetischer Musik widmet, aber auch verschiedene schulische Initiativen ins Leben gerufen hat und unter anderem Kindern aus Nomadenfamilie in der tibetischen Region Amdo ermöglicht, zur Schule zu gehen. Die Begegnung mit Karen ist übrigens ein gutes Beispiel für “Die Welt ist ein Dorf”. “I know you from Dharamsala, I recognize your camera.” Es stellte sich heraus, dass sie im April zur gleichen Zeit wie Tiina und ich in Dharamsala war und ihr meine Kamera – eine Pentax mit weißem Gehäuse – aufgefallen ist. Was für ein Zufall.
Augenoperationen in Bangladesh
Nach meiner Trekkingtour quartiere ich mich für eine Nacht im Kloster von Thikse ein. Als ich mich am nächsten Morgen um kurz vor sechs vor dem Tempel zur Purja, der morgendlichen Zeremonie einfinde, bei der aus den buddhistischen Sutren rezitiert und gesungen wird, treffe ich Sheila. Mit ihren kurzgeschorenen Haaren, der langen Tunika und dem Meditationskissen sieht sie nicht aus wie die typische Rucksacktouristin, sondern eher wie eine buddhistische Nonne. So falsch lag ich nicht mit meiner Vermutung. Sheila, die 63 ist, hat zuletzt zwei Monate in einem buddhistischen Nonnenkloster bei Dharamsala verbracht – dort hat sie sich auch ihre langen Haare abrasiert – und überlegt ernsthaft, Nonne zu werden. Ihre Wohnung in London hat sie sowieso schon größtenteils untervermietet und bewohnt nur noch ein Zimmer. So finanziert sie ihre mehrmonatigen Reisen. Sheila ist schon als 20-Jährige, das war Anfang der Siebziger, durch die Welt gereist, hat als Krankenschwester in Bolivien gearbeitet und in Bangladesh, wo sie bei Augen-OPs assistiert hat. Die Zustände in diesen Ländern könne man sich kaum vorstellen, meint sie. In Bolivien hat sie auch damals ihren Mann kennengelernt, einen Deutschen. Sie hat aber eigentlich nur geheiratet, weil Sohn Toby unterwegs war, aus dem ist ein Theaterschauspieler geworden, man kann ihn ab September im National Theatre in London auf der Bühne sehen. Die Ehe hat dann leider nicht lange gehalten.
Pantomimeaufführungen im laotischen Dschungel
Marie und Markus aus Genf, die wie ich in Leh vergeblich auf den Flug nach Srinagar warteten, sind nicht verheiratet, haben aber zwei reizende Söhne, Félix und Léo, neun und elf. Die vier sind seit fast zwei Jahren unterwegs. Markus ist Pantomimeschauspieler, Marie Biologin. Mit 100 Kilo Equipment für seine Stücke, die sich um sozio-kulturelle Themen und Umweltthemen drehen, haben sich die vier seinerzeit per Containerschiff auf den Weg nach Südamerika gemacht. Ein unvergesslicher Einstieg in eine unvergessliche Reise, die über Argentinien, Kolumbien und Costa Rica nach Südafrika, Madagaskar, Laos und schließlich nach Indien führte. Die vier Wochen auf dem Schiff vergingen wie im Flug. Zeit zum Lesen, zum Delfine gucken oder einfach in den unendlichen Horizont schauen und die Gedanken schweifen lassen. Schon im Vorfeld hatte Markus Kontakte zu verschiedenen NGOs geknüpft, die es ihm ermöglichten, auch in den abgelegensten Regionen seine Stücke zu spielen. In einigen Ländern war das gar nicht so einfach, im sozialistischen Laos beispielsweise wollten die Behörden ein genaues Drehbuch sehen. Als es hieß, der Flug nach Srinagar sei gecancelt, haben die Vier mich vorübergehend als fünftes Familienmitglied adoptiert. Wegen Kalachakra waren die Unterkünfte in Leh weitgehend ausgebucht, ich sah mich schon auf der Straße campieren. Zumindest ein Zimmer haben wir noch ergattert, mit ein paar zusätzlichen Matratzen auf dem Boden haben wir dort auch zu fünft Platz gefunden. Markus’ Blog ist zwar auf französisch, aber allein wegen der Fotos lohnt es sich, einmal vorbeizuschauen.
Mit der Royal Enfield von Srinagar nach Manali
In einem Gartenlokal unterhalb des Klosters von Lamayuru traf ich Sally und Jake aus London. Die beiden waren mit Roy unterwegs, der 19 Jahre alten Royal Enfield, die sie in Srinagar für einen Schnäppchenpreis gekauft hatten und die sie vom grünen Kaschmirtal über die Berge von Ladakh bis nach Manali bringen soll. Die Schutzausrüstung, die sie vor Ort gekauft haben war teurer als Roy, aber Jake bestand auf gute Handschuhe. Er ist Künstler und es wäre ein Desaster, wenn er seine Hände nicht mehr benutzen kann. Apropos “Roy”: Im Schriftzug “Royal” fehlen die letzten Buchstaben, da sind sie beiden auf die Idee gekommen, die Maschine so zu taufen. Roy ist ein zuverlässigerer Begleiter als das erste Motorrad, das sie eigentlich gekauft hatten. Schon zwei Stunden hinter Srinagar hat es schlapp gemacht, der lokale Mechaniker im nächsten Dorf konnte auch nichts ausrichten. Jake und Sally haben einen Truck gefunden, der sie und das Motorrad mit zurück in die Stadt nahm. Reparieren war zwecklos. Sie haben sich eine neue Maschine gekauft, Roy. Ob sie es bis nach Manali geschafft haben, weiß ich nicht. Zumindest in Leh, wo ich ihnen ein paar Tage später zufällig begegnete, sind die beiden sicher angekommen. Die Royal Enfield ist übrigens DAS Kultmotorrad in Indien, 1901 wurde die erste Maschine gebaut und Royal Enfield ist heute die älteste noch produzierende Motorradmarke der Welt!
“Barbershop politics” – ein deutsch-kaschmirisches Filmprojekt
In Srinagar lerne ich Shafi kennen, er betreibt das Hotel gegenüber dem Internet-Café, in dem ich regelmäßig meine Mails checke. Als er hört, dass ich aus Deutschland komme, erzählt er mir von einem Filmprojekt von zwei Deutschen, Anja und Hans, “Barbershop politics”, in dem er 2003 mitgewirkt hat. Ich solle doch mal danach googlen und mir den Film anschauen. Ein sehr aufschlussreicher Dokumentarfilm über das Leben in einer krisengeschüttelten Region, gedreht an einem Ort, an dem in Kaschmir gerne über das Leben und die Liebe, Religion und Politik diskutiert wird, dem “Barbershop”. Seit dem Film sind mehr als zehn Jahre vergangen, die Situation in Kaschmir hat sich entspannt, doch alleine die hohe Militärpräsenz zeigt, dass der Konflikt immer noch schwelt. Ich frage Shafi, ob er mir für meinen Blog für ein kleines Interview zur Verfügung steht, was sich in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Er zögert, sagt, er möchte sich derzeit politisch nicht äußern. Im Gegensatz zu dem Taxifahrer, der mich zum Flughafen gebracht hat. Er schimpft über den Verkehr und die schlechten Straßen und darüber, dass die indische Regierung Kaschmir bei Infrastrukturprojekten hinten runter fallen lässt. Von der neuen Regierung erwartet er sich Besserungen. Am liebsten würde er jedoch woanders leben. Er findet es schade, dass die Chinesen im Nordosten, am Pangong Lake, seinerzeit nicht weiter nach Indien vorgestoßen sind, in China würde es ihm besser gehen. Mein Einwände überzeugen ihn nicht.
Richtung China geht es morgen auch für mich, nach sechs inspirierenden Wochen in Indien mit vielen wunderbaren Begegnungen werde ich noch eine Woche in Shanghai verbringen, bevor es zurück geht nach München. Ich würde Euch gerne noch weitere Reisebekanntschaften vorstellen, muss jetzt aber endlich meinen Rucksack fertig packen, ich habe zu viel in Delhi geshoppt, bis bald!
Julia
22. August 2014 at 12:47Ein schöner Beitrag. Da kommen direkt so viele Erinnerungen an meine Reisebekanntschaften. Schön 🙂
alexandra
22. August 2014 at 16:57danke, liebe julia! ich glaube, ich muss noch eine fortsetzung schreiben, es sind noch längst nicht alle der spannenden menschen erwähnt, denen ich in den zwei monaten in indien und china begegnet bin :-).