Ist heute Freitag? Mittwoch? Welches Datum haben wir eigentlich? Ich muss erst einmal überlegen. Je länger ich unterwegs bin, desto mehr verliere ich ein Gefühlt für die Zeit. Ich habe den Eindruck, die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden zerrinnen. Ich kann sie nicht greifen, sie sind wie Sand, der durch die Finger rieselt. Während sich ein Bürotag in Deutschland zuweilen ganz schön in die Länge ziehen kann und ich mir manchmal denke „Oh, es ist erst Mittwoch …“, komme ich derzeit gedanklich gar nicht hinterher und ich wünsche mir, ein Tag hätte mehr als nur 24 Stunden.
Gerade heute bin ich wieder erstaunt, wie schnell der Vormittag an mir vorbei gerauscht ist. Dabei habe ich gar nicht viel gemacht. Ausgiebig mit einem frischen Papayasaft, knusprigem Baguette, hausgemachter Ananasmarmelade und einem großen Milchkaffee auf der Dachterrasse meines Guesthouses in Pondicherry gefrühstückt. Mich lange mit Christian, dem Betreiber des Red Lotus, unterhalten. Über Indien. Die Inder. Die indische Mentalität. Über Deutschland. Die Deutschen. Die deutsche Mentalität. Über Politik. Kulturelles. Soziales. Dabei viele, interessante Einblicke in das Leben in Indien gewonnen, die einem als Reisender in der Regel verwehrt bleiben. Noch mehr „Food for thought“ in meinem ohnehin schon vollen Kopf, in dem die Eindrücke der letzten Wochen Karussell fahren.
In drei Wochen von Küste zu Küste zu Küste: Indien in a nutshell
Das Niederschreiben meiner Eindrücke hilft zumindest vorübergehend, ein wenig Ordnung in das Chaos in meinem Kopf zu bringen. Auf dem Blog von India Someday und in meinem letzten Wrap-Up habt ihr ja schon ein bisschen etwas nachlesen können über mein #YouWanderWePay-Abenteuer, zum Beispiel über Bombay mit meinen zauberhaften Gastgeberinnen Fabia und Soraya, über die berühmten Höhlen von Ajanta und Ellora, die Osho-City Pune, die mystische Felsenstadt Hampi, unseren Besuch beim Maharadja von Mysore, die Straßenzahnärzte und kulinarischen Streifzügen in Bangalore und die traumhaften Tage in Pondicherry am Golf von Bengalen.
Weiter als Pondicherry bin ich leider in meiner Berichterstattung noch nicht gekommen, obwohl der Trip mit India Someday bereits vor zehn Tagen zu Ende ging. Das hängt ein bisschen mit dem verfaserten „Raum-Zeit-Gefühl“ zusammen, das ich versuchte habe, eingangs zu beschreiben. Wenn man alle zwei, drei Tage an einen neuen Ort aufbricht, überrollen sich die Geschehnisse. Und wer schon mal in Indien gereist ist, weiß, dass alleine eine Zug-, Bus oder Rikschafahrt aufregend und eindrucksvoll sein kann. Und so facettenreich sein kann wie das Land selbst.
Unterwegs in Indien mit Zug, Bus und Rikscha – ein Abenteuer
Ich erinnere mich gerade daran, wie wir in einem hochmodernen Zugabteil im Zug von Mysore nach Bangalore sitzen, umringt von Pendlern, die ihren Laptop an die Steckdosen im Zug anstöpseln, sich einen Tee beim Servicepersonal bestellen oder die Zeitung lesen, bevor sie dreieinhalb Stunden später in Bangalore zum Geschäftstermin eilen. Was für ein Unterschied zu unserer Nachtzugfahrt in der 3. Klasse von Bangalore nach Pondicherry. Wir quetschen uns mit unserem Gepäck in das Sechserabteil, das noch nicht einmal Vorhänge geschweige dann Schiebetüren für ein bisschen Privatsphäre hat, dafür aber mehrere blinde Passagiere, die uns aus der nicht so sauberen Bettwäsche entgegen krabbeln. Aber wir sind ja froh, dass wir überhaupt im Zug sitzen. Nicht nur wegen des eindeutig bekifften Rikschafahrers vom Vormittag, der sich immer wieder zu uns umdrehte, um uns zu überzeugen, in das Geschäft seines Cousins zu fahren, anstatt auf die Straße zu schauen. Auch der Rikschafahrer, der uns zur Yasvantpur Junction bringen sollte, einem großen Bahnhof außerhalb der Stadt, schien uns nicht zugehört zu haben. Nachdem wir schon eine gute Viertelstunde unterwegs waren, dreht er sich um und fragt „Central Station right?“ Neeeeeiinnnn! Zum Glück hatten wir genug Zeit eingeplant und unseren Zug noch erwischt. Da fällt mir noch eine Episode ein. Als wir in Pondicherry feststellen, dass uns der Rikschafahrer, der uns vom Bahnhof zum Ram Guesthouse gefahren hat, das übrigens nur zwei Rikschaminuten vom Bahnhof entfernt liegt, so was von über’s Ohr gehauen haut und wir uns beschweren, dreht er kurzerhand seine Rikscha herum und fährt zum Bahnhof zurück. Mit uns. Am Bahnhof angekommen werden wir wüst beschimpft und man verlangt einen Abschlag, da man uns ja wieder zum Bahnhof gebracht hat. Wir eilen mit Siebenmeilenstiefeln und unseren Rucksäcken davon. Incredible India … Ich sollte vielleicht ein Buch über die Rikscha Wallahs schreiben …
Nach französisch inspirierten Tagen in Pondicherry mit gutem Essen, vielen Tassen Milchkaffee, Croissants und Crêpes, einem Besuch in der „Stadt der Morgenröte“ und ein paar Stunden schönen an den Stränden in und um Pondicherry ging es auf zum „Tempel Hopping“. In Tamil Nadu befinden sich einige der berühmtesten, ältesten und eindrucksvollsten Hindutempel des Landes, darunter in Thanjavur und in Madurai, die wir beide besucht haben und von denen wir uns kaum loseisen konnten. Besonders der Meenakshi Amman Tempel in Madurai hat mich gefesselt, nicht nur wegen seiner Architektur. Warum, könnt Ihr im übernächsten Beitrag auf dem Blog von India Someday nachlesen!
Traumhafte Kaufmannsvillen in Chettinad
Zwischen unseren Besuchen in Thanjavur und Madura verbringen wir einige Tage in Chettinad. Obwohl ich nun schon häufig in Indien war, hatte ich von von dieser Gegend in Tamil Nadu bislang noch nie etwas gehört. Wer vorgestern den Artikel „Inde: Les somptueux palais oubliés du Chettinad“ in „Le Monde“ gelesen hat, weiß, warum ich unbedingt noch einmal in diese Region zurück möchte! Wir hatten die Gelegenheit, drei Nächte in einer dieser wunderbaren Kaufmannsvillen zu verbringen: Saratha Vilas, ein Kleinod, das die beiden Architekten und Designer Michel und Bernard mit viel Liebe zum Detail hergerichtet haben. Die beiden Franzosen wissen, wie man ihre Gäste verwöhnt und was man als Blogger braucht – ein gemütliches Chaiselongue, Wi-Fi und köstlichen südindischen Tee am Nachmittag. Mehr zu Chettinad, die interessante Geschichte, wie es die beiden über Umwege in dieses klitzekleine Dörfchen verschlagen und warum ich die Saratha Vilas ungerne wieder verlassen habe, könnt Ihr in den kommenden Tagen im Blog von India Someday nachlesen.
Von Tamil Nadu in das Teehochland von Kerala
Bernard und Michel sind erstaunt als wir ihnen erzählen, wieviele Kilometer wir in der kurzen Zeit bereits zurückgelegt haben. Tatsächlich haben wir in drei Wochen zweimal den Kontinent durchreist von der Westküste zur Ostküste und wieder zurück zur Westküste. Von Madurai kämpfen wir uns die Berge hoch, in die Western Ghats, dem Gebirgszug, der Tamil von Kerala trennt. Glücklicherweise nicht mit einem der klapprigen Government Busses, die wir immer wieder überholen, sondern mit einem Fahrer. Unser Ziel heißt Munnar. Über dieses kleine Örtchen im Teehochland von Kerala habe ich schon mal berichtet. Hier habe ich während meines Sabbaticals 2011 nicht nur gelernt, wie man einen Reifen an einer Rikscha wechselt, sondern auch, dass man auch in Badeschlappen wunderbar Bergsteigen kann. Theoretisch … Ich bin froh, bei unserer Tour durch die Tee-, Kaffee- und Kardamonplantagen, die sich in den Hügeln rund um Munnar erstrecken, feste Schuhe anhabe. Trotz Vibramsohle eine glitschige Angelegenheit, denn wo Tee wächst, muss es feucht sein. Nach wunderbaren Sonnenaufgängen werden wir ab frühen Nachmittag immer von einer Nebelwolke verschluckt, aus der sich später stundenlang ergiebiger Regen ergießt. Zeit, bei von kleinen Manufakturen in Munnar hergestellter Schokolade aus heimischem Kakao und dampfendem Kardomontee auf dem Balkon die frische Luft zu genießen!
Kerala Classics: Backwaters und koloniales Fort Kochi
Und schwupps geht es auch schon in riesigen Schritten auf das Ende des #YouWanderWePay-Abenteuers zu. Zumindest für Aminata, meine französische Co-Bloggerin, heißt es in den Backwaters Abschied nehmen. So bleibe ich alleine in dem hübschen Heritage Home in Kumarakom, döse auf einer der Hängeschaukeln in den Nachmittag, lasse mich Nachmittags mit Tee und Samosas verwöhnen, bevor ich zu einem kleinen Spaziergang an den Kanälen aufbreche, wo die Mädchen und Frauen sich baden oder Wäsche waschen. Ein kleines Paradies. Mit dem Local Bus geht es dann nach Fort Kochi, der letzten Station des #YouWanderWePayTrips. Der Fahrer gehört zur Sorte „Drivers from Hell“, außer mir scheint jedoch im Bus niemand Angst zu haben. Vielleicht, weil vorne beim Fahrer ein glitzerndes Bild von Jesus Christus hängt und Gottes Hand uns lenkt? Jedenfalls bin ich heil angekommen. Und beinahe wäre ich noch in die Zeitung gekommen. Denn auf der klapprigen Fähre von Ernakulam nach Kochi war ein Fotograf unterwegs, der für den Deccan Chronicle fotografiert. Die Fotos waren für einen Artikel über eine neue Verordnung gedacht, die die Nutzung von Schwimmwesten vorsieht. Hätte ich mal meine Schwimmweste ordentlich angelegt – das war mir wegen meines Rucksacks zu fummelig – dann hätte man mich vielleicht nicht herausgeschnitten. Denn die beiden Damen, die in der Zeitung abgebildet sind, saßen direkt neben mir. Oder ich neben ihnen. Wie auch immer, genug Medienberichterstattung gab es ja später noch, während der Pressereise nach Utter Pradesh, das habt Ihr vielleicht schon auf Facebook gesehen.
Ihr merkt, das mit dem Gedankenordnen ist nicht so einfach. Ich komme schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste. Wenn ich jetzt noch über meine Tage in Fort Kochi berichte und meine Begegnung mit dem durchgeknallten Maler Desmond, einem ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten, der jeden Abend zwei Brandys trinkt, gerne zu Inspiration auch schon mal einen Joint raucht und in dem Atelier in seinem Elternhaus wohnt und arbeitet, dann stifte ich wohl noch mehr Verwirrung. Außerdem muss ich mich jetzt fertigmachen für meine Abendverabredung. Über Instagram ist eine Inderin auf mich aufmerksam geworden, die letzte Woche nach Pondicherry gezogen ist und für ein indisches Modelabel als Marketingmanagerin arbeitet. Wir werden uns nachher dann mal live und in Farbe kennenlernen.
Also, einen schönen Tatortabend wünsche ich Euch und bis bald!
P.S. Hier seht Ihr übrigens, welche Strecke wir zurückgelegt haben. Angeblich hätte man für die knapp 2.700 Kilometer 51 Stunden mit dem Auto gebracht. Ich glaube, Google Maps hat dabei nicht die indischen Straßenverhältnisse einkalkuliert. Und die Züge fahren vor allem Nachts auch meistens nicht in ICE-Geschwindigkeit … Leider kann man nur 10 Orte bei einer Route eintragen, daher fehlen leider Chettinad, Munnar und Kumarakom auf der Karte.
Lukas
13. Oktober 2015 at 14:58Liebe Alex,
vielen Dank für die vielen tollen Berichte & Fotos. Wir freuen uns, dass dir die Reise mit India Someday so viel Freude bereitet hat und die Zusammenarbeit so super geklappt hat! Tausend Dank!
Alexandra
14. Oktober 2015 at 14:40lieber lukas,
es waren wirklich tolle vier wochen mit euch :-). ich freue mich immer noch riesig darüber, dass ich euer #wanderer sein durfte! und es wird ja noch jede menge artikel und fotos von unserem #YouWanderWePay auf dem blog von #IndiaSomeDay geben :-).
Liebe Grüße aus der Schreibstube in Pondicherry!
Alex