Schon lange vor Mahatma Gandhi hatte Indien einen Freiheitskämpfer: Tipu Sultan, der Ende des 18. Jahrhunderts den Maharadjas von Mysore das Zepter aus der Hand nahm und mit aller Macht versuchte, das Königreich Mysore vor den kolonialen Ambitionen der Briten zu schützen. Die Briten hatten zu der Zeit bereits weite Teile des Subkontinents unter ihre Fittiche genommen, bissen sich jedoch an Südindien und Tipu Sultan die Zähne aus. Es dauerte fast 40 Jahre, bis Mysore Teil des „British Raj“ wurde.
Außer dem ausgeprägten Wunsch, die britischen Kolonialherren zurück auf ihre Insel zu schicken, hatten Mahatma Gandhi und Tipu Sultan auf den ersten Blick nicht sehr viel gemeinsam. Der eine ein Pazifist und Asket, barfuß und in weißem Dhoti unterwegs, der andere ein Mann des Militärs und Exzentriker mit juwelengeschmücktem Wams und Tiger-Spleen, der ihm den Beinamen „Tiger von Mysore“ einbrachte. Während Gandhi mit zivilem Ungehorsam für die Unabhängigkeit Indiens eintrat und sich für eine Vereinigung des Vielvölkerstaats und Versöhnung der unterschiedlichen Religionen stark machte, war Tipu Sultan, Sohn eines muslimischen Feldherren, auf dem Kriegspfad unterwegs.
Nationalheld und Freiheitskämpfer oder Despot und Barbar?
Keine historische Persönlichkeit scheint die indische Nation noch heute, 215 Jahre nach seinem Tod, so zu spalten wie der „Tiger von Mysore“. Erst jüngst, zum Tag der Republik, der Ende Januar mit einer Parade in Neu-Delhi gefeiert wurde, schaffte es Tipu Sultan wieder einmal in die indischen Medien. Dass der Bundesstaat Karnataka auf seinem Parade-Wagen eine überdimensionale Statue des Kriegsherren durch die Straßen der Regierungshauptstadt spazieren fuhr, führte zu einem Sturm der Entrüstung auf Twitter. Von den einen als Nationalheld, Freiheitskämpfer und gewandter, belesener, toleranter Gelehrter und Aufklärer verehrt, von den anderen als tyrannischer, fanatischer Despot und Barbar verschrien, der nicht nur die Briten in den Kerker geworfen, gefoltert und getötet hat, sondern auch Andersgläubige. Die Tipu-Gegner empörten sich, dass man mit dem Karnataka-Paradewagen einen Hindu-Hasser und „warlord“ huldigen würde, die Pro-Tipu-Sultan-Twitteratis bezichtigten die Kritiker der anti-muslimischen Hetze. Es folgte eine Schlacht mit Links zu wissenschaftlichen Artikeln, die jeweils die „Wahrheit“ belegen sollen.
Ob Bösewicht oder Märtyrer, darüber werden sich die Wissenschaftler wahrscheinlich noch länger streiten. Mahatma Gandhi hat angeblich irgendwo geschrieben, für ihn sei Tipu Sultan einer der größten Helden der indischen Geschichte, der sich den Hindus gegenüber immer großzügig gezeigt habe. Ich tendiere eher zu Bösewicht. Auf jeden Fall scheint Tipu Sultan einen Größenwahn gehabt zu haben, ähnlich eines Napoleons, zu dem er übrigens enge Beziehungen unterhielt und dem er den Beschreibungen nach auch rein äußerlich ähnelte – etwas zu klein und zu breit geraten, mit einem kurzen, dicken Nacken. Sein Expansionswille war so groß, dass ihn nicht nur die Briten, sondern auch seine unmittelbaren Nachbarn fürchteten.
Tipu Sultan hatte einen Tiger-Spleen
Ein gewisser Hang zur Exzentrik lässt sich auch nicht leugnen: Seit Tipu Sultan auf der Jagd einen Tiger, der ihm ans Leder wollte, mit einem Dolch bezwang, hatte er einen Tiger-Spleen: Seine Krone war mit Tigermuster verziert, seine Elitetruppen trugen Tigerembleme, die auch in seinem Wappen zu finden waren. Die Krönung: Sein Lieblingsspielzeug war ein mechanischer Tiger, der auf einem britischen Offizier sitzt, dessen verzerrter Gesichtsausdruck von Todesangst zeugt. Den Tiger, der übrigens von französischen Ingenieuren konstruiert wurde, kann man sich heute im Victoria & Albert Museum in London anschauen. Rund um seinen Palast in Sirangapatnam ließ er ebenfalls Tigerstatuen aufstellen. Wahrscheinlich, um den Palast vor den Briten zu bewachen …
Als ich mit dem Fahrer der städtischen Tourist Agency – der übrigens so überpünktlich am Hotel war, dass ich noch beim Frühstücken saß – in Sirangapatnam ankam, waren die Tiger alle ausgeflogen. Statt dessen wimmelte es vor Schulklassen, die Besichtigung des alten Sommerpalastes, des Forts, auf dessen Gelände übrigens auch ein alter Hindu-Tempel stand, und des Mausoleums gehört offenbar zum Lehrplan der Schulen in Karnataka. Es ist anzunehmen, dass im dortigen Geschichtsunterricht die „Tipu war ein Held“-Variante gelehrt wird. Der Palast, in dem Tipu gerne auch ausländische Gäste empfing, unter anderem aus dem befreundeten Frankreich, ist von außen recht dezent gehalten, innen kann man jedoch noch den alten Prunk erahnen. Die Säulen hatten, wen wundert’s, ein Tigermuster. In dem Mausoleum, das Tipu für seine Eltern errichten ließ, wurde auch er beigesetzt, nachdem er 1799 schlussendlich doch den Kugeln der Briten zum Opfer fiel.
Tipu Sultan Devotionalien bei Sotheby’s
Tipu’s Nachfahren wurden nach seinem Tod übrigens nach Kalkutta ins Exil geschickt. Dort hatte er einst den Royal Calcutta Golf Club gekauft, dessen Einnahmen den Erben eigentlich ein gutes Leben bescheren sollte. Die sahen jedoch lange Zeit keinen Pfennig. Die Verwalter der Stiftung, die gegründet wurde, um den Nachfahren ein monatliches Auskommen zu sichern, waren der Meinung, die Königskinder könnten nicht mit Geld umgehen und führten sich immer noch auf, als seien sie etwas Besseres. Außerdem brauche man schließlich Geld, um die Moschee in Kalkutta zu unterhalten, die nach Tipu Sultan benannt wurde. So waren die Erben arm wie eine Kirchenmaus, mussten sich als Rikscha-Kuli und Dienstboten der Kalkuttaer High-Society verdingen, konnten ihre Kinder nicht zur Schule schicken und mussten zu allem Überfluss noch den Spott der Nachfahren anderer indischer Königsfamilien ertragen. Vor fünf Jahren hatte man ein Einsehen und rehabilitiert sie, man gab ihnen den königlichen Status zurück. Es ist zu hoffen, dass sie nun auch zumindest soviel Geld erhalten, um ihren Kindern eine Bildung zuteil werden lassen zu können. Genug Geld wäre jedenfalls theoretisch da: Das mit Juwelen besetzte Goldschwert des „Tigers von Mysore“, das letztes Jahr bei Sotheby’s in London versteigert wurde, wechselte für sage und schreibe 500.000 Pfund seinen Besitzer.
Kalkutta wird die erste Station meiner Indien-Reise im März sein, der Moschee werden wir auf jeden Fall einen Besuch abstatten und vielleicht auch auf einen Gin Tonic im Royal Golf Club vorbeischauen. An dieser Stelle geht es aber erst einmal weiter mit dem Tempel von Somnathpur und meiner ersten Zugfahrt. Bis nächste Woche!
Din
3. März 2014 at 7:27Was für eine Geschichte und was für eine Behandlung von Menschen. Deine Hintergründe sind ja super spannend, da könnte ich noch Stunden von lesen. Ich bin gespannt, wie du Kalkutta erlebt hast.
alexandra911
4. März 2014 at 7:26es war für mich auch sehr interessant, mich nochmal näher mit diesem thema zu beschäftigen, auch vor dem hintergrund der anstehenden parlamentswahlen. auf kalkutta bin ich auch schon sehr gespannt. ich lese gerade mitternachtspalast von carlos ruiz zafon, quasi zur einstimmung.