Ich verbrachte eine weitere schlaflose Nacht im zwölften Stock des pinkfarbenen Hochhauses in Amritapuri. Es war stickig und meine neue Mitbewohnerin Jeannie schnarchte ohne Pause. Zum Glück hatten wir keinen weiteren Mitschläfer bekommen, an der Wand lehnte nämlich noch eine dritte Matratze … Ich schälte mich aus meinem verschwitzten Schlafsack und betete, dass heute der Tag aller Tage sein würde. Ich nahm mir vor, spätestens morgen abzureisen, komme was wolle.
Beim Frühstück im Western Café versuchte ich herauszufinden, ob es was Neues gab in Sachen Darshan. Es hieß, die Chancen stünden gut, dass heute etwas passierte. Meistens würde Amma, wenn sie von einer Tournee zurückkam, spätestens ein, zwei Tage nach ihrer Rückkehr eine “Umarmungssitzung” für die Menschen im Ashram abhalten. Ganz spontan, keine der offiziellen Veranstaltungen, die landesweit in den Tageszeitungen inseriert werden. Zu diesen Massen-Darshans fanden regelmäßig Tausende von Indern ihren Weg nach Amritapuri. Wer Glück hatte, ergatterte einen der numerierten Tokens und wartete mitunter den ganzen Tag, bis er an die Reihe kam. Ich hatte gehört, dass diese Begegnungen zum Teil bis zum Morgengrauen dauerten.
Tomoyo und Tomoko, die beiden Japanerinnen, waren ebenfalls zuversichtlich. Sie waren heute zum Tempelputzen eingeteilt und meinten, das sei ein gutes Zeichen. Ich sollte mich bereithalten! Ich war etwas unentschlossen, was ich mit dem Tag anfangen sollte. Sollte ich mich irgendwo in der Nähe des Tempels auf die Lauer legen? Ich beschloss, ein wenig die Umgebung zu erkunden und marschierte über die ebenfalls pink gestrichene Brücke auf die andere Seite der Backwaters. Bei der Gelegenheit konnte ich mich vielleicht auch schon mal um meine Weiterfahrt kümmern.
Ich spazierte ein wenig den Fluss entlang, interviewte den Taxi- und den Rikschafahrer und den Ticketverkäufer an der Bootsanlegestelle, wie ich am besten und am günstigsten nach Alleppey komme. Das war nämlich mein nächstes Ziel. Viel gab’s hier nicht zu sehen. Vor dem einzigen Geschäft – einem Tante-Emma-Laden mit ein paar Plastikstühlen und -tischen davor – hockte ein Mädel, das ich schon mal im Ashram gesehen hatte. Sie sprach mich an, blickte entschuldigend auf ihre Zigarette und ihre Cola und meinte, sie bräuchte mal eine Auszeit. Nikotin war im Ashram natürlich strengstens verboten. Wir plauderten eine Weile, ich erfuhr, dass sie eigentlich aus dem Libanon kam, in Holland lebte, Yogalehrerin war und auf Kreuzfahrtschiffen arbeitete. Bevor ich in Versuchung kam, mir auch eine Cola, Kekse oder Chips zu kaufen, machte mich wieder auf den Weg zurück ins rosarote Reich von Amma.
Gerade noch rechtzeitig! Als ich im Tempel die Treppe hinauf gehen wollte in Richtung Computerraum, zupfte mich eine der beiden Japanerinnen am Ärmel. Tomoko hörte kurz auf, das Treppengeländer zu wischen und raunte mir zu: „Amma kommt gleich, schnell, such‘ dir einen Platz unten.“ Es war soweit! Was für ein Timing! Nicht auszudenken, wenn ich jetzt mit einer Cola auf der anderen Seite des Flusses sitzen würde und von dem, was nun folgte, nichts mitbekam! Ich flitzte schnell wieder die Treppe hinunter und sah, dass die übrigen Ashram-Bewohner bereits in Scharen in den Tempel strömten. Aber wohin? Wo würde sich Amma hinsetzen? Einige Helfer bauten einen großen Sessel und ein Mikrofon vis-à-vis zum Eingang auf. Ich hockte mich zu der Menschenmenge, die sich zu Füßen des Sessels postiert hatte.
Plötzlich wurde auf der anderen Seite des Tempels noch ein weiterer Sessel hingestellt. Die Verwirrung war komplett. Um mich herum standen alle auf und rannten zu der neuen kleinen Bühne. Es war wie bei der Reise nach Jerusalem. Wer zu langsam war, hatte verloren. Ich war wohl ein Tick zu langsam. Eigentlich hatte ich einen strategisch günstigen Platz und musste nur ein paar Meter nach rechts. Ich hatte mich gerade wieder hingehockt, als eine Frau mit spitzer Stimme und französischem Akzent mich anfuhr, ich könne dort nicht sitzen bleiben. Ich würde auf der Seite der Männer sitzen, das ginge ja gar nicht.
Ich blickte mich um und stellte fest, dass ich zwar am äußersten Rand des „Frauenareals“ saß, aber immer noch bei den Frauen. In den Augen der Französin hatte ich die Demarkationslinie jedoch mehr als überschritten. Meine neue Freundin keifte mich an, dass ich aufstehen und mir hinten einen neuen Platz suchen müsse, Amma würde so etwas nicht tolerieren und erst dann anfangen, wenn alle ordentlich sitzen. Sie wisse das ganz genau, schließlich würde sie hier leben.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Predigte Amma nicht etwas von Liebe, Verständnis und einem friedlichem Miteinander? In dieser Unterrichtsstunde hatte sie wohl nicht aufgepasst. Ich erklärte ihr, dass ich doch nur noch heute hier sei, noch nie bei einem Darshan gewesen sei, ich mich so freuen würde und sie sicherlich häufiger Gelegenheit dazu habe. Ich bekam Unterstützung von einer kurzhaarigen Spanierin, die wie ich zwischen die Lager geraten war. Die Französin schimpfte weiter vor sich hin, ließ uns dann aber irgendwann in Ruhe. Ich glaube, ich bin wirklich froh, wenn ich hier weg kann. Was für eine Heuchelei.
Dann kam Amma! Gekleidet in einem weißen, langen Gewand, mit einer weißen Dupatta über den zusammengeknoteten schwarzen Haaren, betrat sie den Tempel durch den Seiteneingang. Ihr folgte eine Entourage aus mindestens einem halbem Dutzend Assistenten, die übrigens allesamt Westler waren. Amma nahm in dem roten Samtsessel Platz und sprach eine kurze Meditation. Dann ging es los! Zuerst waren die Kinder dran. Die wurden von ihren Eltern nach vorne geschoben und von einer der Helferinnen instruiert, was sie tun sollten. Dann durften die vortreten, die Amma noch nie begegnet waren und in den nächsten Tagen wieder abreisten.
Das war mein Stichwort. Ich stand auf und ging nach vorne. Ich war ganz schön aufgeregt und zitterte etwas. Die Helferin fragte mich, aus welchem Land ich käme. Germany. Sie flüsterte Amma etwas ins Ohr, ich hockte mich auf die Knie, Amma drückte mich an ihren mächtigen Busen, strich mir über das Haar und sagte ganz leise auf Deutsch „meine Tochter“. Diejenigen, denen meine Berichte zuweilen sowieso schon zu esoterisch sind, überlesen jetzt einfach mal den nächsten Satz. Es ist mir tatsächlich peinlich, wenn ich jetzt sage, dass ich anfing zu heulen. Mir kullerten die Tränen über die Wangen, ich wusste nicht, warum. Irgendetwas ging definitiv von der „hugging saint“ aus, etwas, das mich tief berührte. Bevor mich die Helferin zur Seite schob, um Platz für den Nächsten zu machen, fiel mir Sarah McDonald und „The Holy Cow“ ein und ich sandte noch schnell einen Wunsch ans Universum. Ich verrate nur soviel, der Wunsch lautete NICHT “bigger boobs” wie bei Sarah!
Ich musste erst mal an die frische Luft. Was für ein Erlebnis, ich konnte es kaum fassen, dass sich das Warten tatsächlich gelohnt hat und ich eben noch in Ammas Armen lag. Der Tag der persönlichen Begegnungen mit Amma war jedoch noch nicht vorbei. Wer wissen möchte, was noch auf dem Programm stand, schaut einfach in den nächsten Tagen wieder hier vorbei – ich muss mich nämlich jetzt auf den sonntäglichen Tatort vorbereiten :-). Bis bald!