Das erste Mal war ich 2006 in Indien, im Norden, in Rajasthan, dem Klassiker für Einsteiger, und in Uttar Pradesh. Denn dort liegt Agra, Heimat des weltberühmten Taj Mahal, des Wahrzeichens Indiens, das ich seit Jahren unbedingt einmal in natura sehen wollte.
Der wunderschöne Grabbau aus Marmor, den der Großmogul Shah Jahan für seine verstorbene Frau Mumtaz bauen ließ, war nur eines der Highlights meines ersten Indienabenteuers. Die Pink City Jaipur mit dem Palast der Winde, die Blue City Jodhpur mit den blaugetünchten Häusern, Udaipur, das auch das Venedig des Ostens genannt wird, Jaisalmer, Bikaner, prächtige Maharadschapaläste, alte Forts, hübsche Havelis, bunte Basare, kulinarische Köstlichkeiten aus der Mogulküche – “Incredible India” hat mich sofort in seinen Bann gezogen, obwohl ich nur einen klitzekleinen Ausschnitt des riesigen Subkontinents gesehen hatte, der fast zehnmal so groß ist wie Deutschland.
Noch nie war ich in einem so lebendigen und farbenfrohen Land. Die Farben der Gewürze auf den Basaren, leuchtend gelbes Kurkuma, knallrotes Chili, tabakbraunes Garam Masala. Die bunten Saris aus glänzender Seide, die einem überall entgegenschillern und in den kräftigsten Farben leuchten, in türkis, pink oder grün. Die mit goldenen Stickereien verziert sind und aus jeder Inderin eine elegante Schönheit machen, egal ob sie 18 oder 88 ist. Dazu das Geklapper der vielen Armreifen, mit denen sich indische Frauen gerne schmücken.
Dieses Geräusch gehört ebenso zu Indien wie der ohrenbetäubende Straßenlärm. Inder lieben es zu hupen. Der Rikschafahrer hupt, der Taxifahrer hupt, der Busfahrer hupt. Der schnurrbärtige junge Mann, der sich mit seiner fünfköpfigen Familie auf dem Moped durch den dichten Verkehr schlängelt, hupt auch. Der Verkehr lässt sich zwar durch dieses Hupkonzert wenig beeindrucken, doch das stört niemanden. Wenn er nicht gerade seinen Geschäften nachgeht und einem auf Teufel komm raus seine Dienstleistung oder sein Produkt verkaufen will, ist der Inder an sich tiefenentspannt. Er lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, auch wenn das Leben es vielleicht gerade nicht so gut mit ihm meint. Das liegt sicherlich zum Teil am hinduistischen Glauben, denn die Hindus gelten als tolerant und geduldig. Für sie ist Leid Teil des Schicksals, das ihnen durch ihr vorheriges Leben vorbestimmt ist. Good karma, bad karma.
Man darf die Augen natürlich nicht davor verschließen, dass es auch viel Leid in diesem Land gibt. Glanz und Elend liegen ganz dicht nebeneinander. Das spürt und sieht man an jeder Ecke. Obdachlose, die sich ihr Nachtlager in dem Eingang einer hypermodernen Shopping-Mall suchen. Der alte Mann in Kurta und Turban in der Altstadt von Delhi, der sich die wenigen Rupien für die öffentliche Toilette nicht leisten kann und sich ungeniert in den Rinnstein hockt, um sein Geschäft zu machen. Bettler, die einem mit ihrer Handbewegung zu verstehen geben, man möge ihnen etwas zu essen kaufen und die sehr hartnäckig sein können und einen am Ärmel zupfen, wenn man einfach weitergeht. Dann die Slums. Der Annawadi Slum in Mumbai schmiegt sich direkt an den internationalen Flughafen, im Schatten der Luxushotels, wo jeden Tag Touristen aus aller Welt ein paar Stunden Schlaf suchen, bevor es mit dem Nachtflug zurück geht Richtung Europa oder Nordamerika. Vom Rollfeld aus sieht man die behelfsmäßigen Behausungen aus Pappe und Plastikfolien, der Zaun des Flughafengeländes dient mancher Hütte als Außenwand.
Ja, es gibt auch viel Dreck in Indien. Die heilige Kuh, die in nordindischen Städten wie Delhi auch gerne mal auf dem Mittelstreifen einer vierspurigen Straße spazieren geht, und die Ergebnisse ihrer Verdauung sind allgegenwärtig. Genauso wie die Müllberge, die sich in ausgedörrten Flussbetten oder brachliegenden Rasenstücken türmen und vor sich hin rotten. Auf der Suche nach was Essbarem knabbert die heilige Kuh auch gerne schon mal an einem entsorgten Tetrapak. Kein Wunder, dass die Milch im Kaffee manchmal etwas dünn und gräulich wirkt.
Either you love it or you hate it. Ich kenne viele, die mit diesen Gegebenheiten, mit der Armut, dem Dreck, dem Lärm, dem Chaos und dem Gewusel nicht zurecht kommen und nach ihrer ersten Begegnung mit Indien beschließen “Nie wieder!”. Mich hat dieses Land vom ersten Moment an tief berührt, mit all seinen Facetten. Und nie mehr losgelassen. Inzwischen war ich schon sechs Mal Indien. Vor einigen Monaten hat mich eine Freundin gefragt, wieviel Zeit ich insgesamt dort verbracht habe. Ich bin auf 41 Wochen gekommen.
Ich habe erst gerade wieder fast vier Monate in Indien verbracht. Die “Stories of a Travelista” werden also so bald nicht erschöpft sein …