Auch wenn ich meine Magisterarbeit über Simone de Beauvoir geschrieben habe und mich im Zuge dessen ein halbes Jahr lang mit Frauenforschung, Gendertheorien und feministischen Bewegungen beschäftigt habe, bin ich nie Teil einer solchen geworden. Für Alice Schwarzer hatte ich schon damals keine großen Sympathien und die übertriebene Umsetzung einer geschlechtergerechten Sprache fand ich bereits zu Schulzeiten befremdlich. An das Referat einer Mitschülerin mit der konsequenten Nutzung der Formulierung „man Schrägstrich frau“ und „Männinnen“ erinnere ich mich noch heute. Anstatt die Emma zu abonnieren, habe ich mir die Cosmopolitan gekauft und in meinen Untersuchungen, ob Simone de Beauvoir denn nun eine Feministin war oder nicht, ohne schlechtes Gewissen das Wörtchen „man“ benutzt. Obwohl mich bei der Formulierung „Mitfrau im Verein werden“ ein ähnliches Gefühl beschlich wie damals in der Schule und ich auch alles andere als ein Vereinsmeier bin, bin ich gestern der Organisation TERRE DES FEMMES beigetreten.

Warum ich „Mitfrau“ geworden bin? Nein, es war nicht das hüpfende Google-Doodle zum Weltfrauentag, das ich am Freitag den ganzen Tag auf meinem Bildschirm gesehen habe. Soweit geht die Macht des Internet-Monopolisten aus Mountain View dann hoffentlich doch nicht. Der Weltfrauentag hat aber tatsächlich seinen Beitrag geleistet. Er hat ein diffuses Gefühl kanalisiert. Ein Gefühl, das sich in mir breit gemacht hat, seit ich beschlossen habe, erneut nach Indien zu reisen.

Schon als ich damals zu meiner viermonatigen Reise aufgebrochen bin, war die erste Frage immer die Gleiche: „Hast du keine Angst? Ist das nicht gefährlich?“. Das war bevor mit der Vergewaltigung der jungen Studentin in Delhi die Welle an Horror-Nachrichten über sexuellen Übergriffe an Frauen losbrach. Dieselbe Frage bekomme ich natürlich dieses Mal auch gestellt, jetzt erst recht. „Dänische Touristin wird Opfer von Gruppenvergewaltigung“, „Überfall im Schlafwagen. Junge Deutsche in Indien vergewaltigt.“ „Yogalehrer soll deutsche Urlauberin vergewaltigt haben“, „Dorfrat soll Gruppenvergewaltigung beschlossen haben“. Natürlich beunruhigen und beängstigen mich diese erschütternden Nachrichten. Ich habe mir regelmäßig die Frage gestellt, ob es angebracht ist, in ein Land zu reisen, in dem offensichtlich weder Touristinnen noch die einheimischen Frauen sicher sind. Begebe ich mich wissentlich in Gefahr, wenn ich übernächste Woche das Flugzeug nach Neu-Delhi besteige? Die Frage, die ich mir dann auch irgendwann gestellt habe: Ist es überhaupt opportun, als Frau in ein Land zu reisen, in dem ein Frauenleben keine Rupie wert ist, weibliche Babys abgetrieben werden, weil die Familie weiß, dass sie niemals die Mitgift bezahlen kann, Mitgiftmorde begangen werden, Zwangsheiraten normal sind und Misshandlungen zur Tagesordnung gehören?

Vor einem Jahr schrieb die ZEIT „Indien ist ein anstrengendes Reiseland, aber kein gefährliches Reiseland“. Es ging in diesem Artikel um die Herausforderung, das richtige Maß aus Nähe und Distanz zu finden, um angemessene Kleidung, Verhaltensregeln in brenzligen Situationen und den Hinweis, sich stets von Vorsicht leiten zu lassen, der gerade in Indien laut der im Artikel interviewten Expertin offenbar nicht von allen ausreichend berücksichtigt würde. Quintessenz: „Wer sich aber einigermaßen vernünftig verhält, kann auch in Indien recht sicher reisen.“ Der Artikel hat fast 60 Kommentare, ein hitziger Schlagabtausch mit zum Teil unsachlichen, provokanten Äußerungen, wie anhand der Anmerkungen der Redaktion zu sehen ist. Provokant sind vor allem die, die der ZEIT-Redakteurin und der Interviewten jegliche Kompetenz absprechen, den Vorwurf des „Victim Bashing“ erheben und fordern, „dass man dieses Land gefälligst meiden sollte, bis die Regierung des Landes glasklare Gesetze erlässt und präventive Einrichtungen im ganzen Land aufgebaut hat“. Diejenigen, die sich in dem Bericht wiederfinden, weil sie Indien ähnlich erlebt haben, wie es die Autorin beschreibt, als anstrengend, aber nicht gefährlich, werden abgestraft.

Reiseland Indien boykottieren?

Was bringen Tourismus-Boykotte? In Indien macht der Tourismus gerade einmal ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Wenn die Touristen wegbleiben, wären die Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes verschwindend gering. Es würde als allererstes diejenigen betreffen, die dadurch ihre Jobs verlieren, den weniger Wohlhabenden, die in Hotels und Restaurants arbeiten, die in ihrem Haus Gästezimmer vermieten, am Strand Obst verkaufen. Die Regierung in Delhi würde dies recht wenig interessieren. Sie würde wahrscheinlich erst reagieren, wenn die unzähligen Multinational Companies in Indien ihre Investments zurückfahren. Die Unternehmen, die ihre Power-Point-Präsentationen über Nacht in Indien basteln lassen, die ihre Chips, die im übrigen auch in deutsche Autos verbaut werden, in Bangalore entwickeln lassen und und und. Deutschland ist übrigens Indiens wichtigster Handelspartner innerhalb der EU und gehört zu den zehn wichtigsten Direktinvestoren. BASF hat am Freitag angekündigt, für sein neues Forschungszentrum in Mumbai zwei Millionen Euro zu investieren. An dieser Stelle anzusetzen, wäre deutlich schmerzhafter. Das wird aber angesichts der weit verzweigten wirtschaftlichen Verflechtungen nicht passieren.

Im übrigen müsste man noch viele, viele andere Länder meiden. Ägypten und die Türkei beispielsweise, zwei Länder, die auf der Beliebtheitsskala deutscher Pauschaltouristen weit oben stehen. Zwei Länder, in denen sexuelle Übergriffe auf Frauen zum Alltag gehören, genauso wie Frauenhandel, Zwangsehen usw. Der Tahrir-Platz ist nicht nur Schauplatz der Demonstrationen für ein neues Ägypten, sondern auch für zahllose, brutale Übergriffe auf Frauen. In Malaysia kann man in der Tageszeitung Ort und Zeit der öffentlichen Auspeitschungen nachlesen, beispielsweise von Frauen, die beim Seitensprung erwischt wurden. 2009 wurde ein muslimisches Model ausgepeitscht, das in einer Bar mit einem Bier gesichtet wurde. Übrigens hat in der EU jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt, so eine zum Internationalen Frauentag veröffentlichte Studie der EU.

Gefährlich oder nicht gefährlich?

Der SPIEGEL hat vor ein paar Wochen drei junge Journalistinnen zu Wort kommen lassen, die jeweils mehrere Monate in Indien unterwegs waren. „Noch nirgendwo so oft belästigt“ und „begafft, betatscht, im schlimmsten Fall vergewaltigt“ betitelt der Redakteur den Artikel. Die drei berichten davon, dass sie ständig fotografiert wurden, wie sie im Bus oder in einer Menschenmenge angegrapscht wurden, sich plötzlich von einer Gruppe Männer umringt sahen, die sie anfassen wollten. Opfer von Vergewaltigungen wurde glücklicherweise keine der drei. Trotz dieser Erfahrungen, trotz der Belästigungen, sind sich alle drei einig, dass sie trotzdem oder jetzt erst recht wieder nach Indien reisen werden.

Siola-Cinta Panke, 28, Journalistin und Reisebloggerin in Köln:

„Am Ende sollte man Indien meiner Ansicht nach nicht voreingenommen, aber mit Rücksicht aufs Bauchgefühl bereisen. Dann wird man das Land von seiner einzigartigen, schönen und unbeschreiblichen Seite erleben.“

Katharina Finke, 28, Journalistin in New York und Berlin:

„So viele Belästigungen hatte ich noch auf keiner anderen Reise erlebt. Umso erleichterter war ich, als sie zumindest gen Süden des Landes ein wenig abnahmen. Doch das änderte nichts daran, dass sie mir im Gedächtnis blieben und ich daher vielen davon erzählte. Es beschäftigt mich nach wie vor so sehr, dass ich in den nächsten Wochen erneut nach Indien reisen werde, um darüber zu berichten. Ich finde es sehr wichtig, den Frauen dort zu helfen.

Stella Brikey, 28, Journalistin in Hamburg:

„Ich weigere mich, dieses Land, in dem ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe und auf so viel Warmherzigkeit und Gastfreundschaft gestoßen bin, als die ‚Frauenhölle‘ zu bezeichnen, als die sie gerade in der Presse geschildert wird.“

Ich kann alle drei Statements nur unterschreiben. Obwohl ich ebenfalls häufig angestarrt, fotografiert und in zwei Situationen leider auch angetatscht wurde – ich möchte und werde Indien nicht von meiner Reisekarte streichen. „Madame, a photo please“, ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz gehört habe. Nicht nur von indischen Großfamilien, die plötzlich neben mir standen und mich fragten, ob sie ein Gruppenfoto mit mir für’s Familienalbum machen dürfen. Junge Kerle, Anfang zwanzig, wollten sich mit mir ablichten lassen, um bei den Kumpels anzugeben, „Guck’ mal, meine neue Freundin.“ Dass ich deutlich älter war als sie, störte nicht. Die Smart-Phone-Foto-Jäger waren jedoch harmlos. Ich habe mir angewöhnt, zu erwidern „One photo: 50 rupees.“ In Indien war es üblich, dass sich beispielsweise Sadhus dafür bezahlen ließen, wenn man sie fotografierte. Damit waren die meisten erstmal mundtot gemacht. Und irgendwann war man sie dann los.

Ich wurde auch von jungen Kerlen ohne Smart Phones angesprochen. Die mich fragten, wo ich herkäme, was ich hier alleine mache. Ich hatte mir zwar auch wie eine der Journalistinnen aus dem SPIEGEL-Bericht ein gewisses Grundmisstrauen angelegt, mit dem ich jedem erst einmal innerlich unterstellte, dass er zumindest Geld von mir will. Umsicht und eine Grundskepsis ist in diesem Land definitiv mehr als hilfreich. Doch jeden direkt abzukanzeln, der einen anspricht, weil er ein potenzieller Übeltäter sein könnte, empfand ich als paranoid. Ich hoffte immer, dass ich auch ein wenig auf mein Bauchgefühl hören konnte. Bei den zwei Kerlen, die mich Sonntags morgens am Connaught Place im Zentrum von Delhi aus heiterem Himmel im Vorbeigehen fragten, ob ich mit einen Kaffee trinke, war klar, das mache ich bestimmt nicht. „No, thank you.“ Warum denn nicht. „No, thank you.“ Sie wollten mich zwar noch in ein weiteres Gespräch verwickeln, aber ich bin dann einfach weitergegangen.

Der junge Typ, der mich am Gangesufer in Rishikesh ansprach, wirkte nett und sympathisch, erzählte mir ein bisschen von sich, von seinem Job in Delhi, ich erzählte ihm von meiner bisherigen Reise. Irgendwann war es dann aber auch gut, ich nahm mein Buch und sagte ihm, ich wolle jetzt weiterlesen. In der Zwischenzeit hatten sich ein paar seiner Freunde unten am Wasser niedergelassen und feixten zu uns rüber. Ob ich seine neue Freundin sei. Das Ganze ging dann noch ein bisschen hin und her, aber als ich dann nochmal, sehr bestimmt, sagte, dass ich jetzt wieder alleine sein möchte, verabschiedete er sich dann auch und die Jungs ließen mich in Ruhe. Solche Situationen gab es immer wieder, in Varakala, in Varanasi, überall. Auf Dauer konnte das schon sehr anstrengend sein, manchmal auch einfach nervig. Oft sah man schon aus der Ferne, dass derjenige gleich auf einen zusteuern würde. Die Blicke der indischen Männer am Strand, die immer in Gruppen am Wasser entlang spazierten und ihre Augen auf die Strandliegen mit den Touristen richteten und gerne an hellhäutigen Frauen kleben blieben, waren auch alles andere als entspannend. Aber all dies habe ich niemals als bedrohlich empfunden.

Als ich in Mysore mitten auf der Hauptstraße plötzlich die Hand eines alten, zahnlosen ausgemergelten Männleins auf meiner Brust hatte, war ich zunächst sehr erschrocken. Der Typ war entweder völlig betrunken oder bekifft. Noch bevor ich den Alten anbrüllte, er solle mich in Ruhe lassen und zurückstieß, klinkte sich der Passant an, mit dem ich kurz vorher auf der Bank gesprochen hatte, weil wir beide auf der Suche nach einem funktionierenden Bankautomaten waren. Ich fühlte mich ziemlich zittrig, aber mehr aus Wut denn aus Angst, der Alte hätte auch gar nichts weiter unternehmen können, er konnte noch nicht einmal mehr gerade laufen. Eine sehr unangenehme Situation, an die ich nicht gerne zurück denke, die aber auch auf dem Oktoberfest hätte passieren können.

Mein Silvesterabend in Mumbai hätte anders ausgehen können. Im Nachhinein habe ich oft gedacht, dass ich da vielleicht mehr Glück als Verstand und einige Schutzengel gehabt habe. In Mumbai an Silvester nach Mitternacht ein Taxi zu bekommen ist in etwa genauso schwierig wie in jeder deutschen Großstadt. Die Alternative war also, zu Fuß zum Hotel zu laufen. Den direkten Weg zum Hotel unten am Meer entlang sollte ich auf jeden Fall meiden, sagte der Türsteher des italienischen Restaurants, in dem ich mit Steffi, die aber wegen ihres Weiterflugs schon früher aufbrechen musste, und einer amerikanischen Bekannten zu Abend gegessen hatte. Am Gateway of India habe sich ein Mob gebildet. Ich solle über den Colaba Causeway gehen. Toll fand ich diese Idee nicht, aber was wäre die Alternative gewesen. Im Lokal zu bleiben und es ein, zwei, drei Uhr nachts werden zu lassen? Zumal um fünf Uhr das Taxi zum Flughafen am Hotel auf mich warten würde.

Als ich am Café Leopold vorbei ging und in den Colaba Causeway einbog, kamen mir Massen von Menschen entgegen. Nur Männer, keine einzige andere Frau weit und breit. Ich wurde angefeixt, angepfiffen, auch von den Kerlen in den vorbeifahrenden Autos. Ich versuchte, das Ganze zu ignorieren und starren Blickes und mit aufrechtem Gang zügig weiter zu gehen, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Als der erste versuchte, mich anzutatschen, habe ich instinktiv laut gerufen „Stop, lass’ mich in Ruhe“. Und mein Knie ausgefahren. Er ist zum Glück weiter gegangen. Diese Situation wiederholte sich noch ein, zwei Mal. Ich bin dann sicher und ohne weitere Zwischenfälle im Hotel angekommen. Und heute noch dankbar, dass diese Harikiri-Aktion so glimpflich ausgegangen ist.

Ich würde diesen zehnminütigen Fußmarsch heute nicht mehr machen, sondern wahrscheinlich so lange auf den Türsteher einreden, bis er mir ein Taxi besorgt, woher auch immer. In Delhi hätte ich das definitiv so gemacht. Mumbai ist ein Moloch, aber weitem nicht so ein raues Pflaster wie Delhi, laut Statistik die gefährlichste Stadt Indiens. Niemals wäre ich hier nach Einbruch der Dunkelheit die zwei Kilometer vom Connaught Place nach Paharganj gelaufen, jenem berühmt-berüchtigten Backpacker-Viertel in der Nähe des Hauptbahnhofes, in dem ich nach stundenlangen Recherchen mangels bezahlbarer Alternativen Quartier bezog, trotz der unzähligen Einträge bei TripAdvisor, die von gestohlenen Reisepässen, Einbrüchen und Bedrohungen durch das Hotelpersonal berichten. Wo tagsüber noch haufenweise Touristen unterwegs sind, auf dem Weg in die Shops im Main Bazaar oder zum Bahnhof, lungern Abends nur noch Einheimische herum. Männergruppen, die alles andere als vertrauenserweckend aussehen. Auch wenn man als Frau laut Auswärtigem Amt in Indien nicht alleine Taxi oder Rikscha fahren soll, fand ich diese Variante doch deutlich sicherer als zu Fuß zu laufen.

Ich habe Delhi so gut es geht von meiner nächsten Reiseroute ausgeklammert, zwei, drei Nächte lassen sich jedoch nicht vermeiden. Ich reise dieses Mal nicht alleine, so dass nicht nur meine Eltern und Freunde beruhigter sind, sondern auch ich entspannter reisen werde als ich es alleine tun würde. Ich werde dieses Mal mit Sicherheit mit einem anderen, geschärften Blick durch dieses Land reisen.

Es ist zu hoffen, dass die neue Regierung, die demnächst gewählt wird, das Thema Gewalt gegen Frauen ernster nimmt als die aktuelle unter Manmohan Singh. Deren Zusagen scheinen nur Lippenbekenntnisse zu sein. So ist zu lesen, dass der Frauennotruf in Delhi, der nach der Vergewaltigung der jungen Studentin Ende 2012 eingerichtet wurde, vor dem Aus steht. Über 3.000 Anrufe gingen dort täglich ein. Seit Dezember schon bekommen die Mitarbeiter kein Geld mehr. Ich habe mich für TERRE DES FEMMES entschieden, weil auch ein Projekt in Indien unterstützt wird. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber besser als gar nichts. Und: Wegbleiben ist weggucken, sagte am Samstag eine Bekannte, die auch schon häufiger in Indien war. Genau deshalb werde ich Indien nicht von meiner Reisekarte streichen.

2 comments

  1. Danke für diese Liebeserklärung an Indien! 🙂

Leave a Comment