Gestern war es endlich soweit – die Lesung mit Jeet Thayil im Literaturhaus! Ich war total neugierig auf den mir bis vor kurzem zugegebenermaßen unbekannten Musiker und Schriftsteller aus Indien, dem ich als Gewinnerin eines Autoren-Interviews im Vorfeld des Literaturfests schriftlich fünf Fragen zu seinem fesselnden Debütroman “Narcopolis” stellen durfte.
„Meinst du, er hat die Fragen selbst beantwortet? Autoren haben doch auch ihre PR-Leute“, fragte mich die Freundin, die mich begleitet hat. Ich dachte kurz nach. Als Mitglieder dieser Zunft hatten wir beide unseren Kunden oder Geschäftsführern ja oft genug die Antworten für Kaltinterviews in den Mund gelegt. Nein. Die Antworten, die ich letzte Woche zugeschickt bekam, sind einfach zu authentisch und pointiert. Da hat definitiv keine PR-Feder mitgewirkt. Ich muss jedoch zugegeben, beim ersten Durchlesen wusste ich nicht so recht, was ich von den Antworten halten sollte. Vielleicht hätte ich doch auf den Tipp meines gutmeinenden, anonymen Blog-Kommentators hören sollen, etwas „vom intellektuellen Gas herunterzugehen“. Etwas lockerere Fragen zu stellen und nicht welche, die er sicherlich schon x-mal gehört hat. Tatsächlich schien ihm meine profane Frage, was er von Deutschland und den Deutschen denkt, am besten gefallen zu haben.
Die Interview-Antworten – in Englisch, damit es authentisch bleibt – gibt es erst zum Ende, sozusagen als Bonbon! Der Abend im Literaturhaus bot nämlich noch viele spannende Einblicke in eine faszinierende Welt und das Leben eines außergewöhnlich interessanten Menschen, die ich Euch nicht vorenthalten möchte! Wer meine Bewerbung für das Autoren-Interview gelesen hat, weiß ja schon ein bisschen etwas über Jeet Thayil und worum es in dem Buch geht.
Wie ich gelernt habe, hat er insgesamt fünf Jahre an “Narcopolis” gearbeitet und das Buch nochmal komplett umgeschrieben, als er nach zweieinhalb Jahren die Stimme gefunden hat, die ihn zu dem schwindelerregenden, rauschhaften Prolog inspiriert hat. Er sei sich bewusst gewesen, dass er mit diesem einführenden Satz, der sich über fast sieben Seiten erstreckt und wie ein langer Zug an einer Opiumpfeife wirkt, sicherlich einige Leser abschrecken würde. „Eine Geschichte über Opium braucht lange Sätze, kreisförmige Sätze, wie ein ‘O’. Den Leser in diese Welt einzuführen, funktioniert nicht, indem ich wie ein Journalist oder wie Hemingway schreibe“, erklärt Jeet, der mit 14 Jahren Baudelaire gelesen hat, der sich beim Schreiben mit Opium, Hasch und Wein berauscht hat.
City of O.
1979 betrat Jeet zum ersten Mal ein Opium Den in Bombay. Doch schon bevor er seine erste Opiumpfeife geraucht hat, sei er süchtig gewesen. Süchtig nach der Atmosphäre in der Opiumhöhle: „Ich fand dort eine Szene vor wie aus der Literatur geschaffen, einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die Ritze der Fensterläden, Staub wirbelte durch die Luft, die Männer, die auf dem Boden lagen, sprachen so leise, als ob sie in einer Kirche wären, es hatte etwas Sakrales. Das hat mich vom ersten Moment an gefangen.“ Und ihn 20 Jahre nicht losgelassen. Opium, Alkohol und später Heroin bestimmten sein Leben, wie das Leben der Protagonisten in “Narcopolis”, die sich in Rashid’s Opiumhöhle von der schönen Dimple die Opiumpfeife zubereiten ließen. Jeet berichtet, dass die Regierung 1984 alle Opium Dens in Bombay geschlossen hat. Dann sei das braune Pulver, das Heroin aus Pakistan gekommen, das die Meisten, die mit dem Opium noch verantwortlich umgehen konnten und ein weitgehend normales Leben geführt haben, umgebracht hat.
Jeet hat 20 Jahre mit den Drogen ein weitgehend normales Leben geführt und immer als Journalist gearbeitet. Daneben habe er „die meiste Zeit in Bars gesessen, über Literatur geredet, mit Literaten geredet, ohne aber ein einziges Wort zu schreiben.“ Die Inspiration für “Narcopolis” kam ihm bei einem Arbeitsaufenthalt in Italien, wo er eigentlich ein Sachbuch über indische Religionen schreiben wollte, das „wahrscheinlich nur sechs Leser gehabt hätte, meine Eltern, meine Schwester und noch drei Andere“. Beim Schreiben eines Kapitels über die Shuklaji Street – dort trafen sich Hippies aus Europa, Künstler, Gestalten aus der Unterwelt und die Getrauchelten, aber auch Geschäftsleute auf der Suche nach dem Rausch in Rashid’s Opium Den – habe er plötzlich gemerkt, dass er einen Roman schreiben muss. „Es wurden Erinnerungen an Spaziergänge durch die Shuklaji Street wach, die 25 Jahre zurückliegen. Ich konnte mich noch genau erinnern, auch an die Gerüche. Ich war aufgeregt, wusste, ich muss dieses Buch schreiben.“
Wer ist „H.C.V.“?
Sein Buch widmete Jeet „H.C.V.“. Das steht für den Hepatitis C-Virus. Diese Diagnose sei für ihn Fluch und Segen zugleich gewesen. Er habe immer wieder versucht, einen Entzug zu machen, es aber erst nach der Hepatitis-Erkrankung geschafft, mit einem Methadon-Programm in New York. Mit Methadon wolle man dort jedoch lediglich die Junkies von der Straße wegbringen, nicht von ihrer Sucht, sagt Jeet. Er habe es über eineinhalb Jahre langsam zurückgefahren und sei laut seinem Berater der Erste gewesen, der es geschafft hat, davon loszukommen. Dennoch sei “Narcopolis” keine Katharsis. Im Gegenteil: In den fünf Jahren, in denen er an dem Buch arbeitete, kam er den Orten seiner Vergangenheit gefährlich nah. „Es öffneten sich Türen, die sich besser nicht geöffnet hätten“, erklärt Jeet, ohne dies näher auszuführen.
Der Abend mit Jeet Thayil öffnete auch mir neue Türen. Ich werde “Narcopolis” bestimmt noch ein zweites Mal lesen. Und vielleicht auch endlich mal “Les Fleurs du Mal”, das seit meinem Studium unberührt in meinem Bücherregal steht, aber immerhin jeden Besucher beeindruckt :-). Natürlich nutzte ich auch die Gelegenheit, mein Exemplar von “Narcopolis” signieren zu lassen. Und Jeet war auch so nett, sich mit mir ablichten zu lassen, damit ich ein bisschen Bildmaterial für diesen Blogpost habe. Vielen Dank an die Kolleginnen vom Orgateam des Literaturfests für’s Fotografieren!
So, und nun möchte ich Euch Jeet’s Antworten nicht länger vorenthalten!
Das Interview mit Jeet Thayil
Novels are often more than fiction but have autobiographical traits. The hero in “Narcopolis” is a drug addict who left New York to return to India. We can certainly say that there are some parallels between the sequence of events in the novel and your own life. How much of “you” and your life is portrayed in the book?
Jeet Thayil: Narcopolis is a work of the imagination, but it is rooted in the kind of detail that comes from close observation, from immersion in the real. That said, all fiction is autobiography and all autobiography is fiction.
Baudelaire, Cocteau, Kerouac, Burroughs – some of the most brilliant figures in literary history were all some kind of addicts or another. Do you think there is a strong link between art and addiction?
Jeet Thayil: Addiction can produce sloppy and unconvincing art. Also, it’s a good excuse to not work. The figures you name were productive artists despite their addictions. Perhaps the only link between art and addiction is alliteration.
You are also a musician and a poet. In “Narcopolis”, you make extensive use of drawings, conscious images, metaphors, and most of all, poetry. What inspired you to use such a great variety of literary techniques in this work of art?
Jeet Thayil: It might have been a way of keeping myself interested. But I’d rather not say any more for reasons of superstition; I think it may be true that once you talk about the ‘why’ and the ‘wherefore’ you might not be able to do it anymore.
To some critics your work has more in common with William S. Burroughs and his novel “Naked Lunch“ than with books written by contemporary Indian authors. Do you think this is true? Who inspired you in your own work to date?
Jeet Thayil: No. Today I’m inspired by the scene from my window in Berlin, by the way the boxy BMWs look like an image from the eighties, by the fallen leaves on the sidewalk and the hooded figures emerging into the half-light.
Your novel is set in the red light area and drug district in Bombay, a haven of sin, a world that the usual visitor to this city will never see. What is your own personal experience of Bombay and the people living in Bombay? Did Bombay change since you lived there?
Jeet Thayil: Bombay has changed completely and fatally since the time that I lived there. As a society it has become less tolerant and more paranoid. It is unwelcoming, crowded, chaotic, closed. In other words, it is a kind of hell. But the changes that have overtaken the city were prefigured decades ago; nothing’s shocking.
Mr. Thayil, would you allow me an additional question? My friends think, I’m kind of over-intellectualizing and should ask you a sixth question, which is more profane! You have been visiting a couple of German cities in the last few weeks. What was your funniest experience? Is it true what most people say about the Germans?
Jeet Thayil: Thanks, I’m always grateful for a little profanity. For me, the interesting thing about traveling around Germany has been to understand, or to arrive at an understanding of the very particular, very European way in which people here think about books. It is an old-fashioned nineteenth century notion about literature that is incredibly moving for someone like me, who comes from a culture where the book has become a commodity.
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