Es gibt immer ein nächstes Viertel in den Trendmetropolen der Welt. In New York, genauer gesagt in Brooklyn, ist Bushwick das Synonym für das nächste Viertel. Tabak und Getreide bauten die französischen, britischen und holländischen Einwanderer einst an in „Boswijck“. So hieß der sechste Bezirk Brooklyns ursprünglich – „Stadt im Wald“. Mitte des 19. Jahrhunderts übernahmen die Deutschen das Ruder in dem Viertel im nordöstlichen Brooklyn an der Grenze zu Queens. Sie machten aus Bushwick den Nabel der Braukunst im Nordosten der USA. Das gute Dutzend Brauereien und die Bierhallen, in denen Sonntags zu deutscher Volksmusik geschunkelt, verschwanden nach dem zweiten Weltkrieg. Nach massiven sozialen Unruhen in den Siebzigern mutierte Bushwick zur „No go“-Zone. „Crack & Crime“, regierten die Straßen und bis weit in die Neunziger galt Bushwick als ähnlich gefährlich wie die South Bronx.
Heute gehört Bushwick zu den sieben hippesten Stadtvierteln der Welt, das sagt zumindest der „Global Street Style Report 2014“ der Vogue. Ob Anna Wintour jemals selbst den Fuß nach Bushwick gesetzt hat, frage ich mich, als ich an der Morgan Avenue aus dem L-Train steige. Staub wirbelt durch die Luft, als der große Zementlaster viel zu schnell in die Kreuzung einfährt und im Hof der Zementfabrik verschwindet. Willkommen in Bushwick, dem neuesten In-Viertel Brooklyns.
Rund um die Morgan Avenue – Graffitikunst in altem Rotlichtviertel
Warum ich einen sonnigen, heißen Augustnachmittag in einem Industriegelände in Brooklyn verbringe, in dem außer Zementmischern und mir scheinbar niemand unterwegs ist? Ganz einfach: Anstatt dem Guggenheim Museum oder dem Museum of Modern Art in Manhattan einen Besuch abzustatten, hole ich mir meine Dosis Kunst heute in Bushwick. Denn die Straßenzüge rund um die Morgan Avenue – auch als „Morgantown“ bekannt – und die Jefferson Street sind neben dem Areal „Five Pointz“ in Long Island City eine der größten Outdoor-Galerien New Yorks. Wandmalereien von Graffitikünstlern aus aller Welt schmücken die Mauern der alten Lagerhallen und Industriegebäude, vor deren Toren früher nach Fabrikschluss cracksüchtige Prostituierte auf ihre Kunden warteten.
Ich habe zwar einen Plan auf meinem iPad, auf denen die „Graffiti Hotspots“ von Brooklyn Bushwick eingezeichnet sind, doch den stecke ich schnell wieder ein. Verlaufen kann man sich nicht im schachbrettartig angelegten „Morgantown“. Und farbenfrohe Street Art gibt es in der Morgan Avenue, dem Harrison Place, der Bogart Street, der Grattan Street, der Moore Street und der Seigel Street an jeder Ecke. Fast jede Mauer ist hier zur Leinwand geworden. Die meisten Graffiti entstehen sogar legal. Einzelne Künstler wie auch Künstlerkollektive kooperieren in vielen Fällen mit den Grundstücksbesitzern und dürfen beispielsweise die Mauern nutzen, die die Fabrikgelände umgeben.
Galerien, „Jazz up your latte“ und das berühmte „Roberta’s“
Bis auf das monotone Rattern der Betonmischer ist kein Geräusch zu hören. Bin ich wirklich in New York? Zwischen die Industriebrachen mischen sich Reihen mit einstöckigen Holzhäusern, fast wähne ich mich in einer amerikanischen Kleinstadt. Dann gelange ich in eine etwas belebtere Gegend, in der sich Galerien und Indie-Boutiquen an Cafés und Juice Bars reihen. Mit den Künstlern, die ihre Lofts in den Industriebrachen und Lagerhallen eingerichtet haben, kamen die übrigen „Verdächtigen“ nach Brooklyn Bushwick – die Kreativen, die Studenten, die „Hipster“ und damit ein großes Angebot an Lokalen und Geschäften. Der „Williamsburg-Effekt“ …
So ist aus dem einzigen Schmuddelkind Brooklyns das Viertel mit der höchsten Dichte an Galerien außerhalb Manhattans geworden. In umgebauten Lofts finden wechselnde Ausstellungen statt, beispielsweise im The BogArt in der 56 Bogart Street. Das ehemalige Fabrikgebäude beherbergt heute Galerien wie das Studio 10, die Momenta Art und den Bogart Salon.
Ich widerstehe der Verlockung, mich im Fine & Raw Chocolate in der Seigel Street mit Schokolade einzudecken. Bei über 30 Grad würde sie wahrscheinlich noch nicht einmal den Weg zurück nach Manhattan überstehen. Ein paar Ecken weiter entdecke ich das legendäre Roberta’s in der Moore Street. Roberta’s war einst eine simple Pizzeria, heute gehen in dem unscheinbar wirkenden Lokal mit dem Michelin-Stern Stars wie Beyoncé und Jay Z ein und aus. Im angrenzenden Biergarten lassen sie sich eine „Nun on the run“- oder „Lil’ Stinker“-Pizza mit Zutaten aus dem hauseigenen Garten oder geräucherte Rippchen schmecken.
Bushwick Collective und die Geschichte von Joseph Ficalora
Vom Roberta’s kann man weiter bummeln in Richtung Jefferson Street. Mehr als 50 bunte Graffiti findet man hier sowie in der Troutman Street und der St. Nicholas Avenue. Sie gehen allesamt auf Joseph Ficalora zurück, dem Kurator des Bushwick Collective. Joseph wurde mehr oder weniger zufällig zum Initiator der größten Outdoor-Galerie in New York. Seine Geschichte – fast typisch für das Bushwick der Neunziger: Als Kind verbrachte Joseph die Nachmittage auf dem Dach von GCM Steel, der Stahlfabrik seines Vaters. Einer der wenigen Orte, an denen man draußen sicher war.
1991 wurde Josephs Vater auf dem Nachhauseweg von der Arbeit auf offener Straße erstochen – für ein paar Dollar und eine goldene Halskette. Joseph war damals zwölf. Er kam nie darüber hinweg. 2011, als er auch noch seine Mutter verlor, begann er ein Kunstprojekt, mit dem er dem rauen Bushwick einen neuen Anstrich geben wollte. Im wahrsten Sinne des Wortes – er googelte weltbekannte Graffitikünstler und lud sie nach Bushwick ein, um sich an Hauswänden und Fabrikmauern zu verewigen.
Tipps für eine Street Art Tour in Brooklyn Bushwick
Orientierung: Bushwick liegt im Nordosten Brooklyns. Auf der einen Seite grenzt Bushwick an Queens, auf der anderen Seite an Williamsburg, weswegen das Epizentrum des hippen Bushwicks häufig auch East Williamsburg genannt wird.
Hinkommen: Mit dem L-Train zur Morgan Avenue oder zur Jefferson Street.
Street Art: Wenn man in der Morgan Avenue oder der Jefferson Street von der Subway auf die Straße kommt, fallen sie einem sofort ins Auge – die bunten Graffiti und Street Art Werke. Einfach die Moore Street, Grattan Street, White Street, Seigel Street, Jefferson Street, Troutman Avenue and Gardner Avenue entlang spazieren und staunen.
Galerien: Eine Übersicht mit Galerien, Vernissagen und eine Karte findet man bei Bushwick Galleries.
Essen und Trinken: Neben dem berühmten Roberta’s gibt es in den ehemaligen Lagerhallen rund um die Morgan Avenue jede Menge weitere Lokale. Zu empfehlen ist beispielsweise das Swallow Café in der Bogart Street 49 und die Juice Bar, ebenfalls in der Bogart Street. Dort kann man bei einem Hangover Helper, einem Immune Booster oder einem Green Monster Smoothie auftanken.
Aufpassen: Auch wenn Bushwick an diesem strahlenden Sommertag keinen solchen Eindruck vermittelt – es wird empfohlen, vor allem Abends umsichtig zu sein und einsame Ecken zu meiden. Ende 2015 wurden drei Menschen in der Gegend bei einem Überfall angeschossen.
Diana
30. März 2017 at 18:34Hallo Alexandra,
danke für diesen interessanten Beitrag. Streetart finde ich spannend und eine solche “Galerie” ist eine tolle Art, einen Stadtteil zu erkunden. Ich hoffe, dass ich bald nach New York komme, damit ich das selber sehe.
Viele Grüße
Diana
Alexandra
3. April 2017 at 7:40Hallo Diana,
ich lande irgendwie immer und überall bei Street Art, gefällt mir einfach so gut. Und Brooklyn unbedingt einplanen, wenn es Dich nach New York verschlägt! LG Alexandra
Ina
31. März 2017 at 16:24Deine letzten Artikel über Williamsburg hat mich schon begeistert, dieser zeigt wieder ein anderes Bild dieses Stadtteils. Die Streetart dort ist wirklich toll. Es macht bestimmt Spaß, durch die Straßen zu streifen. Auch diese Tipps werde ich mir abspeichern.
LG Ina
Alexandra
3. April 2017 at 7:39Hallo Ina,
das freut mich sehr! Brooklyn ist wirklich faszinierend und hat noch mehr Street Art zu bieten, auch wenn ich diese unglaublich faszinierend finden. Lohnt sich auf jeden Fall! LG Alexandra
Hartmut
1. April 2017 at 22:56Hallo Alexandra,
auch dieser Teil deiner Street-Art-Reihe fasziniert mal wieder. Ich finde es immer wieder aufs neue interessant, wenn aus ehemal heruntergekommenen Vierteln schöne und eben manchmal auch hippe Gegend werden. Nur leider geht das ja auch immer wieder zu Lasten der alteingesessene Bevölkerung. Bushwick scheint sich jedenfalls ganz schön rausgeputzt zu haben.
Ich habe Ender der 90er für 2 Monate in NY gelebt, muss aber zu meiner Schande gestehen, dass ich nie wirklich nach Brooklyn kam. Dafür bin ich täglich in die Bronx gependelt, da ich dort gearbeitet habe. Auch damals empfohl man mir, nach 22 Uhr nicht mehr durch die Straßen zu ziehen, da es eben immer noch ein wenig gefährlich sein konnte, wenn auch bei weitem nicht mehr so wie in den 70er und 80er Jahren.
Brooklyn werde ich mir für den nächsten NY-Besuch ganz oben auf die To-Do-Liste schreiben!
LG
Hartmut
Alexandra
3. April 2017 at 7:38Hallo Hartmut,
irgendwie lande ich immer und überall in Street Art “Galerien”, egal ob Brooklyn oder Lissabon oder Delhi. Finde es ebenso faszinierend, wie ehemals heruntergekommene “No-Go”-Gegenden zu erkunden. Ja, leider hat die Gentrifizierung auch viele Nachteile. In Brooklyn scheint es fast kein Viertel mehr zu geben, was davon verschont ist. Selbst das berüchtigte Red Hook hat jetzt Künstlerkolonien etc. So spannend, dass Du in der Bronx gelebt hast! Ich war 1999 für drei Monate in New York, da hieß es noch, bloß nicht in die South Bronx. Ich war mal auf einem Recherchetermin oberhalb von Harlem, Jackson Heights, puerto ricanisch, das war damals schon grenzwertig. LG Alex
Daniel
2. April 2017 at 16:02Oh, sehr schöne Straßenkunst und die Bilder sind klasse. Ich bin ein echter Streetart Fan (habe mich früher in den Sturm und Drang Jahren auch mal mit mäßigem Erfolg an Graffiti versucht 😉 Wenn es dich mal nach Südamerika verschlägt, musst du unbedingt nach Valparaiso – die Streetart Hauptstadt. Liebe Grüße Daniel
Alexandra
3. April 2017 at 7:35Hallo Daniel,
ich weiß auch nicht – egal, wo ich hinreise, lande ich bei Streetart. Finde diese Form der Kunst einfach wahnsinnig faszinierend. Und fotogen ;-). Echt, Du hast Dich selbst einmal als Street-Artler versucht, spannend! Südamerika steht definitiv auf meiner Liste, Valparaiso werde ich mir vormerken!
Liebe Grüße
Alexandra
Michaela
2. April 2017 at 23:18Wow, sehr interessanter Artikel. Ich war zwar noch nie in Brooklyn aber ich könnte mir gut vorstellen dass es mir dort gefällt 🙂
Lg aus Ecuador
Alexandra
3. April 2017 at 7:34Hallo Michaela, Brooklyn ist wahnsinnig spannend, ich hätte locker zwei Wochen dort verbringen können. LG aus München, Alexandra
Jessi
3. April 2017 at 16:38Hallo Alexandra,
hui, das sieht ja wirklich richtig ‘hip’ aus!
Ich fand vor allem auch die Hintergrundinfos am Anfang total interessant.
Aber die Streetart dort schaut echt genial aus, das werde ich mir auf jeden Fall mal selbst anschauen müssen.
Bis dahin lieben Dank für’s Mitnehmen,
Jessi
Claudia
3. April 2017 at 18:35Hallo Alexandra, es ist tatsächlich 22 Jahre her, dass ich das letzte Mal in New York war. Und Mitte der 90er wurde auch von einem Besuch von Brooklyn dringend abgeraten. Damals war es Tribeca, das gerade ziemlich hip war. Es hat sich viel getan in der Stadt. Vielleicht schaffe ich es irgendwann doch noch einmal hin. Liebe Grüße, Claudia
Tobias
19. Oktober 2017 at 0:07Gekonnte Street Art ist einfach etwas tolles. Solange es sich nicht nur um irgendwelche nichtssagenden Tags handelt. So erzählen sie in gewisser Weise ja immer wieder eine ganz eigene Geschichte die man gesehen haben sollte. Dafür muss man sich allerdings etwas Zeit nehmen und nicht einfach nur an ihnen vorbei laufen. Ich finde es wirklich toll das du dir diese Zeit genommen hast und die Bilder hier veröffentlichst, ehe sie wieder verschwinden oder übermalt werden.
Alexandra
3. November 2017 at 9:17Ich LIEBE Street Art! Egal, wo ich bin, ziehen mich diese Gegenden magisch an. Und ja, sie haben etwas Vergängliches. Und dann kommt wieder was Neues, das macht es auch so spannend. LG aus München, Alexandra