Der Höhepunkt des morgendlichen Satsangs im Ashram war gekommen, wenn wir unsere eingeschlafenen Beine aus dem Lotussitz entknotet hatten und uns am Altar ein Prasard abholen durften. Mit einem Becher heißen Chai ausgestattet, traf man sich danach unterm Mangobaum.
Wenn die Hindus in den Tempel gehen, bringen sie Süßigkeiten oder Früchte als Opfergabe mit. Das Prasard wird auf den Altar gestellt und von einem Priester gesegnet. Manchmal werden die Speisen wieder mit nach Hause genommen. Beispielsweise, wenn ein Familienmitglied krank ist und nicht mit in den Tempel kommen kann. Meistens wird das Prasard aber nach der Tempelzeremonie verteilt.
Prasard und heißer Chai: Stärkung für die Yogastunde
Im Sivananda Ashram wurden die süßen Köstlichkeiten jeden Tag frisch herstellt, von den Frauen aus dem Dorf, die in der Küche des Ashrams arbeiteten. Gebackene Teigkugeln mit Mango, frittierte Bananenstücke oder Erdnussbällchen mit getrocknetem Ingwer und Kardamon. Die Erdnussbällchen konnte man auch in der Ashram-Boutique kaufen. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, auf meiner Reise auf Süßigkeiten zu verzichten, hatte ich mir einen kleinen Vorrat angelegt. Eine Notration, die jedoch jeden Morgen kleiner wurde. Immerhin gesünder als Schokolade …
Die kleine Stärkung war dringend nötig. Vor dem Frühstück standen zwei Stunden Asana-Praxis auf dem Programm. Zum Glück gab es noch einen heißen, süßen Chai. Wenn wir aus der Meditationshalle kamen und versuchten, die richtigen Flip Flops wieder zu finden, standen schon die dampfenden Kessel mit dem gezuckerten Milchtee auf dem Steintisch unter dem Mangobaum. Eigentlich verbietet die yogische Diät sowohl Milchprodukte als auch Zucker und Schwarztee. Doch glücklicherweise war das Sivananda Ashram zumindest was den Tee anbelangte nicht ganz so streng.
“I’m in silence” – funktioniert Mouna im Ashram?
Der Mangobaum war der zentrale Treffpunkt im Sivananda Ashram. Beim Morgen- und Nachmittagstee wurde hier gequatscht, geklatscht, geplant und gefragt. Wo man herkommt, wo man hin will, ob man auch seinen Job gekündigt hat. Wie es um die Erleuchtung steht. Oder ob das mit der Erleuchtung nicht schlichtweg ein Gerücht war. Denn wenn man ehrlich war: Die meisten der Lehrer und auch Natraj, der Direktor des Sivananda Ashrams, machten keinen besonders erleuchteten Eindruck.
Wer wie Elizabeth Gilbert in „Eat, Pray, Love“ einen Aufkleber mit „I’m in silence“ auf seinem T-Shirt kleben hatte und sich in Mouna, in Stille, übte, konnte auf eines warten: Gefragt zu werden, wie lange er oder sie schon schweigt. Und wie es sich anfühlt, nicht zu reden. Was für eine Frage. Die Antwort beschränkte sich auch meistens auf einen Fingerzeig auf den Aufkleber. Und ein Verdrehen der Augen. Die meisten hielten ihre Schweigegelübde übrigens nicht lange durch. Kein Wunder bei diesem Trubel.
Vom Ashram weiter durch Indien – Reisepläne schmieden
Wahrscheinlich würde ich das Schweigen auch nicht ertragen. Ich probierte es erst gar nicht. Statt dessen ließ ich mich in den Gesprächen unter dem Mangobaum inspirieren, welche Orte ich in meine Reiseroute einbauen sollte: Das Ashram von Amma, den Strand von Varkala, Fort Kochi, Mysore, Hampi, Goa. Ursprünglich hatte ich vor, die zwei Monate bis zu meiner Weiterreise nach Nepal hier in Kerala zu verbringen, doch tatsächlich besuchte ich alle diese Orte.
Dann schlug sie schon wieder zu, die unbarmherzige Glocke. Das Plauderstündchen war vorbei. Schnell die Teetasse spülen und die Yogamatte schnappen. Welchen wilden Tieren ich in der Yogastunde begegnete und was manche Yogalehrer und Drill Instructor gemeinsam haben, könnt ihr in Der Yoga-Zoo: Hund, Krokodil, Skorpion und andere wilde Tiere lesen.
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